Rezension über:

Rainer F. Schmidt (Hg.): Deutschland und Europa. Außenpolitische Grundlinien zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Festgabe für Harm-Hinrich Brandt zum siebzigsten Geburtstag (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 58), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 159 S., ISBN 978-3-515-08262-4, EUR 30,00
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Rezension von:
Ulrich Lappenküper
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Lappenküper: Rezension von: Rainer F. Schmidt (Hg.): Deutschland und Europa. Außenpolitische Grundlinien zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Festgabe für Harm-Hinrich Brandt zum siebzigsten Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/8355.html


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Rainer F. Schmidt (Hg.): Deutschland und Europa

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Aufgrund seiner tief schürfenden Publikationen zu verfassungsgeschichtlichen, staatsrechtlichen, wirtschaftspolitischen und finanztechnischen Problemen Österreichs im 19. Jahrhundert gehört Harm-Hinrich Brandt ganz gewiss zu den besten Kennern der Geschichte der Habsburger Monarchie des vorvergangenen Jahrhunderts. Es mag daher ein wenig überraschen, dass ihm zu seinem 70. Geburtstag Anfang 2005 von Freunden, Kollegen und Schülern eine Festgabe dediziert wurde, deren thematischer roter Faden nicht zu den zentralen Interessengebieten des Jubilars gehörte: die außenpolitischen Grundlinien des Deutschen Kaiserreiches von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg.

Den Auftakt des von Rainer F. Schmidt herausgegebenen Bandes bildet eine Trias von Aufsätzen, die der Bismarckzeit gewidmet ist. Ausgehend von den in den 1850er- und 1860er-Jahren ausgebildeten politischen Grundüberzeugungen des preußischen Ministerpräsidenten, steuert Winfried Baumgart "einige grundsätzliche Bemerkungen" zur Außenpolitik des Reichskanzlers bei (10). Im kritischen Rekurs auf die aktuelle Forschungslage beleuchtet er dabei zentrale Probleme der deutschen Außenpolitik im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung bis zum Berliner Kongress: die Folgewirkungen der Annexion Elsass-Lothringens, die geheimnisumwitterte "Mission Radowitz" mitsamt der sich anschließenden "Krieg-in-Sicht"-Krise und die Orientkrise von 1875 bis 1878. Einmal mehr wartet Baumgart mit der These auf, dass Bismarcks Politik 1875 "eigentlich defensiv" (16) gewesen sei und im Kontext seiner Orientpolitik bzw. des Kampfes gegen seinen Widersacher Graf Arnim gesehen werden müsse. Einen wirklich stichhaltigen Beweis bleibt er indes schuldig.

Überzeugender wirkt diesbezüglich der Beitrag von Konrad Canis über die Alternativen Bismarck'scher Außenpolitik. Auf der Basis der im Anschluss an die Forschungen Martin Winklers von Andreas Hillgruber idealtypisch skizzierten Wege zur Abwehr eines Koalitionsringes gegen das Deutsche Reich arbeitet Canis drei außenpolitische Wahlmöglichkeiten heraus. "Erstens die Variante, die 1871 gewonnene Stellung [...] zu behaupten. Die zweite Variante liefe auf die Juniorpartnerschaft mit Russland oder England hinaus. Die dritte Alternative wäre [...] das Streben nach der kontinentalen Hegemonie" (22), wobei Canis die "Mission Radowitz" mit nachvollziehbaren Argumenten als Versuch Bismarcks interpretiert, dem Zarenreich eine geteilte Hegemonie auf dem Kontinent vorzuschlagen.

Aus einer eher britischen Perspektive beschäftigt sich Rainer F. Schmidt sodann mit den Strategien der Großmächte in der Balkankrise nach 1875. Plausibel weist er nach, dass es Außenminister Lord Salisbury mit Bismarck als Treuhänder gelang, den russischen Diktatfrieden von San Stefano durch ein Paket aufeinander abgestimmter Abkommen zu entschärfen und zugleich das Dreikaiserbündnis von 1873 zu torpedieren.

Einen Zeitsprung ins unmittelbare Vorfeld der deutschen Reichsgründung zurück wagt Matthias Stickler mit seinem Beitrag über den bislang geheimen Plan des Generalinspektors des habsburgischen Heeres, Erzherzog Albrecht, das deutsche Terrain nach einem Revanchekrieg gegen Preußen politisch neu zu ordnen, Preußen auf den Status einer Mittelmacht herabzudrücken und das Rad der Geschichte vor die Ereignisse von 1866 zurückzudrehen. Stickler kann dabei zeigen, dass die Planspiele des Exponenten der antideutschen Fraktion in der habsburgischen Führungsspitze nicht nur auf außenpolitische Barrieren trafen, sondern ihnen auch gewichtige innenpolitische Hindernisse entgegenstanden. Dennoch hielt der Erzherzog über die Reichsgründung hinweg an seiner anti-preußischen Linie fest und schwenkte erst 1878 aus Enttäuschung über Russland auf den von Österreich-Ungarn seit 1871 offiziell verfolgten Kurs einer engen Zusammenarbeit mit Deutschland ein.

Eine luzide Ergänzung zu den Ausführungen Sticklers bietet Lothar Höbelts außenpolitisch akzentuierter Strukturvergleich zwischen der Habsburger Monarchie und dem Osmanischen Reich. Die gemeinsame Gegnerschaft der beiden "kranke[n] Männer" Europas (118) gegen die Befreiungsideologie der südosteuropäischen Nationalbewegungen schuf eine Parallelität der Interessen; sie diktierte ihnen aber auch die Suche nach Partnermächten, um sich außenpolitische Anlehnung zu verschaffen und dem russischen Panslawismus Einhalt zu gebieten. 1918 endete die bemerkenswerte Mutation "vom Erbfeind zum Schicksalsgenossen" für beide Mächte tödlich (118).

In einer Art kontrafaktisch argumentierenden Analyse versucht Holger Afflerbach die gängige Lehrmeinung zu widerlegen, dass der Erste Weltkrieg durch das Eingreifen der USA entschieden worden sei. Nicht erst 1917, sondern schon 1915 wurden seines Erachtens die entscheidenden Weichen für den Ausgang des mörderischen Ringens gestellt, und die Weichensteller hätten nicht in Washington, sondern in Rom gesessen.

Zum Abschluss des Bandes untersucht Günther Kronenbitter die militärische Zusammenarbeit zwischen den deutschen und österreichischen Generalstäben vor dem Ersten Weltkrieg. Obwohl das von beiden Kaiserreichen 1879 geschlossene Defensivbündnis gegen einen russischen Angriff 1909 im Gefolge der bosnischen Annexionskrise eine offensive Ausrichtung erfuhr, legt Kronenbitter Wert auf die Feststellung, dass damit keineswegs eine "geradlinige Entwicklung" zum "Blankoscheck" des Sommers 1914 vorgezeichnet gewesen sei. Denn noch in den internationalen Krisen der Jahre 1912/13 habe das Deutsche Reich die Habsburger Monarchie "weitgehend im Stich" gelassen, sofern nicht vitale Interessen Österreich-Ungarns bedroht schienen (149).

Von ausgewiesenen Experten verfasst, bieten die sieben in Umfang wie Gehalt durchaus unterschiedlichen Beiträge zwar keine neuen Erkenntnisse, wohl aber konzise Zusammenfassungen der monografischen Arbeiten ihrer Autoren.

Ulrich Lappenküper