Cornelius Borck: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie (= Wissenschaftsgeschichte), Göttingen: Wallstein 2005, 381 S., ISBN 978-3-89244-893-8, EUR 34,00
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Millionen Menschen bekamen zu Weihnachten und Neujahr 1938/39 Grußkarten, die ihnen ein schönes Fest und ein gutes und erfolgreiches neues Jahr wünschten. So auch der Psychiater Hans Berger, der zu diesem Zeitpunkt gerade seine akademische Laufbahn an der Universität Jena beendet hatte. "Wishing you a pleasant yuletide and a new year as you like" - so lauteten kurz und schlicht die Wünsche, die ihm der amerikanische Elektrophysiologe Herbert Jasper übersandte. Was war an diesem Weihnachtbrief so besonders? Er war in elektrischer Hirnschrift verfasst. Auf einer Karte hatte der Absender seine Hirnströme selbst kartografiert: Sie zeigte Jasper mit vorwärts geneigtem Kopf, aus dem zwei Drähte hervortraten und über einen Wandler in wellenartige Linien übergingen; diese Wellenlinien verdichteten sich und ließen sich schließlich als eine Botschaft entschlüsseln. Linien und Kurven als Glückwünsche: ein Hirnstrombrief als Weihnachtspost.
Cornelius Borck, seit Herbst 2004 Inhaber des Canada Research Chair in Philosophy and Language of Medicine an der McGill University in Montreal, hat eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie geschrieben, an deren Anfang die vergnügliche Geschichte mit dem Weihnachtsbrief in Hirnschrift steht und die mit dem Bonmot des Kybernetikers und Konstruktivisten Heinz von Förster endet, wonach Hirnforschung eine "Wissenschaft des Unwißbaren" sei. Dazwischen liegen fünf Kapitel dichter wissenschaftshistorischer Analyse. Sie reichen von den Forschungsstrategien des Erfinders des Elektroenzephalogramms (EEG), Hans Berger, über die Elektrotechniken des Seelenlebens der Weimarer Republik und von den elektromedizinischen Forschungskulturen in England und den Vereinigten Staaten bis hin zur Schocktherapie im Nationalsozialismus und den kybernetischen Hirntheorien der 1950er-Jahre. Borcks Anliegen ist es, die reichhaltigen historischen Wissensräume des elektrischen Gehirns präzise zu vermessen. Gleichzeitig will er diese Wissensräume offen halten und zu weiteren epistemologischen Expeditionen anregen, die sich an den Leitsignalen Historizität und Medialität orientieren.
Das erste Kapitel seiner Studie widmet Cornelius Borck der Frage, warum und wie das EEG als Forschungsgegenstand entstehen konnte. Hierbei stellt er die Elektroenzephalographie nicht als ingeniöse Erfindung eines Einzelnen dar; an einer Darstellungsweise, die ex post eine gerade Forschungslinie konstruiert - und als wissenschaftlichen Königsweg klassifiziert -, ist er nicht interessiert. Borck nivelliert keine Amplituden und glättet keine Zacken, sondern er fragt nach ihren ausschlagenden, widerspenstigen und korrigierenden Qualitäten. Damit ruft er nicht nur die konzeptionelle und technische Offenheit in Erinnerung, die am Beginn der Entwicklungsphase eines jeden wissenschaftlichen Objekts steht. In den Blick geraten auch jene Zwischenschritte und Fehlschläge, die Hans Berger an sich und seinem Forschungsprogramm zweifeln ließen, die ihn aber auch zu technischen Aufrüstungen und Neuanfängen drängten. Es dauerte schließlich zwanzig Jahre, bis Berger 1929 die Messungstechniken so weit stabilisiert hatte, dass er an die Veröffentlichung ging.
Nur kurze Zeit später, im Sommer 1930, wurden Bergers elektrische Gehirnkurven als wissenschaftliche Sensation gehandelt. Borck legt eingehend dar, wie die Einpassung der Elektroenzephalographie in wissenschaftliche Netzwerke sowie in etablierte technische Modellierungen und kulturelle Repräsentationsformen des Gehirns gelang. Der schnelle Erfolg von Bergers Messverfahrens ist zum einen im Zusammenhang mit zeitgenössischen psychiatrischen Erwartungshaltungen zu sehen. Mit der Elektroenzephalographie wurden alte Fragen neu gestellt: War die elektrische Aktivität des Gehirns die lange gesuchte Schaltstelle zwischen organischer Materie und Psyche? Ließen sich mit elektrischen Messverfahren Geisteskrankheiten präzise entziffern? Und konnte man vielleicht schon in naher Zukunft dem Menschen beim Denken zusehen? Zweifelsohne waren es Fragen wie diese, die das besondere Faszinationspotenzial der Elektroenzephalographie ausmachten. Zum anderen passte sich das EEG in die elektrotechnisch vermittelten Lebenswelten der Weimarer Republik ein: Röhrentechnik und Radioapparat machten elektrische Kraftströme zu Kommunikationsströmen - und definierten damit auch die psychophysiologische Verfasstheit des Menschen neu. Spätestens hier, im Kapitel über die "elektrischen Kulturströme", wird deutlich: Es geht in diesem Buch um viel mehr als um eine Spezialstudie zur Geschichte eines medizinischen Akronyms. Es geht um eine historische Elektroanthropologie der Moderne, die Borck mit den Aufzeichnungstechniken der Wissenschaftsgeschichte, der Technikgeschichte und der Medienwissenschaften akkurat betreibt und mit narrativer Eleganz zu verbinden weiß.
Durch den englischen Neurophysiologen und Nobelpreisträger Douglas Adrian, der 1934 in Cambridge die elektrischen Hirnkurven vorstellte, fand die Elektroenzephalographie internationale Beachtung. Vor allem in den USA gab es ein aufnahmebereites Umfeld: Nicht nur der eingangs erwähnte Herbert Jasper, sondern eine ganze Reihe von Wissenschaftlern interessierte sich für Bergers EEG. Eine überraschende Wendung, die aus den neurophysiologischen Wissensräumen der Labors in die diagnostischen Praktiken der Psychiatrie führte, brachte die Epilepsieforschung. Psychiater, die ihre epileptischen Patientinnen und Patienten mit der Elektroenzephalographie untersuchten, fanden ein ungewöhnliches, immer wiederkehrendes Wellenmuster. Damit konnte die Epilepsie als elektrische Funktionsstörung des Gehirns aufgefasst und in klinische Anwendungsbereiche überführt werden. In einen ganz anderen Anwendungskontext geriet das EEG in der NS-Luftfahrtforschung. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin wurde ab 1940 an der Entwicklung eines Sauerstoffmangel-Warngeräts gearbeitet, das in Kampfflugzeugen zum Einsatz kommen sollte. Die in großen Höhen verlangsamten Hirnströme des Kampfpiloten sollten messtechnisch erfasst und über ein Signalgerät einen Warnton ausstoßen, der den Piloten vor der Höhenkrankheit - und der damit verbundenen Gefahr des Absturzes - bewahren sollte. In einer technisch kontrollierten Psychophysiologie des Kampfpiloten entdeckt Borck bereits deutliche Ansätze jener symbiotischen Verbindung von Mensch und Maschine, für die in den 1960er-Jahren die Bezeichnung "Cyborg" gefunden wurde. In diesen Zusammenhang gehören auch die Basteleien des englischen Wissenschaftlers Grey Walter, der mit Sensorschaltungen ausgestattete elektromechanische Geschöpfe konstruierte, die als "elektrische Schildkröten" bekannt wurden. An diesen Beispielen zeigt Borck das adaptive Potenzial der Elektroenzephalographie, ihre in ganz unterschiedlichen Forschungskontexten immer neu entwickelte Gestalt und Wertigkeit. Die kulturgeschichtliche Perspektive, die im Kapitel über die Weimarer Republik so reichhaltig entwickelt ist, ist hier jedoch zu Gunsten wissenschaftshistorischer Deutungen etwas zurückgenommen.
Cornelius Borck interessiert die Geschichte der Gehirnschrift vor allem dort, wo sich das EEG als epistemisches Ding gerierte. Im Kreuzungspunkt von technischen Bestimmungen und physiologischen Modellierungen konstituierte sich eine Experimentalpraxis, die nach vielen Richtungen hin offen war, ständig neue Anschlusskontakte herstellte - und doch immer wieder auf fundamentale Erklärungsdefizite zurückgeworfen wurde. Denn die Frage, was genau sich an den aufgezeichneten Kurven beobachten ließ, welche psychophysiologischen Bedeutungen die Wellenlinien enthielten, konnte von den EEG-Forschern letzten Endes nicht eindeutig beantwortet werden. Ihre Versuche, das Denken des Menschen mittels technischer Aufzeichnungssysteme transparent zu machen, scheiterten genau an der Stelle, wo sie die Rätsel des Denkens lösen wollten. Wenn also das EEG mit seinen Kurven "etwas verbarg, das erst noch zu entbergen war" (264), so blieben diese Entbergungsprozesse erfolglos produktiv. Da ist es nur folgerichtig, dass Borck sein Buch mit einem Plädoyer für eine offene Epistemologie beschließt, welche die Trias von Wissen, Technik und Leben unaufhörlich auf ihre unauflöslichen Verflechtungen hin befragt.
Hans-Georg Hofer