Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München: C.H.Beck 2005, 466 S., ISBN 978-3-406-53526-0, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Richard Hölzl: Gläubige Imperialisten. Katholische Mission in Deutschland und Ostafrika (1830-1960), Frankfurt/M.: Campus 2021
John Warne Monroe: Laboratories of Faith. Mesmerism, Spiritism, and Occultism in Modern France, Ithaca / London: Cornell University Press 2008
Steffi Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Dass sich ein renommierter Historiker mit einem Forschungsschwerpunkt auf der Ideen- und Begriffsgeschichte dem Thema "Frömmigkeit" zuwendet, ist an sich schon ein Ereignis. Dass er das "Ensemble von religiösen Vorstellungen und Handlungsformen" (11), das gemeinhin als "Form der inneren Herzensbildung" (29) gesehen wird, nicht unter die meist wertend verstandene Dichotomie von "Elite" und "Volk" stellt, kann nur begrüßt werden. Lucian Hölscher, hervorgetreten unter anderem durch seinen Datenatlas zum deutschen Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, gliedert den Wandel der protestantischen Frömmigkeit nach den Zukunftsmodellen, unter denen die jeweilige Zeit ihre Gegenwart und Zukunft sah. So folgen in der Abfolge der Studie dem lebendigen Bewusstsein einer "letzten Zeit" (1520-1680) die Modelle der Erweckung und des aufgeklärten Fortschrittsoptimismus (1680-1800) und die zunehmende Säkularisierung sowie gleichzeitige neue Sakralisierung in religiöser Entzweiung (1800-1914). Mit dem Ersten Weltkrieg, mit dem Kirche, so die These Hölschers, nicht mehr als Gegenentwurf zum weltlichen Staat aufgefasst wurde, sondern Staat und Kirche sich im Raum der Gesellschaft zu begegnen begannen, endet der geschichtstheologische Entwurf des Bochumer Historikers.
Der erste Teil (17-87) behandelt die protestantische Konfessionalisierung. Hölscher geht von der Bedeutungsverengung des Begriffs "Frömmigkeit" in der Frühen Neuzeit aus. Prägnant zeichnet er die Entstehung protestantischer Kirchenwesen nach, um auf diesem Hintergrund die traditionellen Felder des religiösen Alltags zu beschreiben. Gottesdienst und religiöse Texte, Seelsorge an Einzelnen und Gruppen (Hausgemeinde), religiöse Erziehung in Familie und Schule sowie die Kirchenzucht in der Gemeinde werden exemplarisch behandelt. Dass sich angesichts einer vorherrschenden Naherwartung Kritik an abergläubischen Vorstellungen regte und als atheistisch inkriminierte Abweichler kompromisslos bekämpft werden mussten, liegt in der Linie der Hölscher'schen Deutung der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunftsvorstellungen.
Atheismus und Aberglaube entfalteten ihre Wirkung aber erst unter dem Epochensignum der Aufklärung (89-174). Hölscher konstatiert einen Transformationsprozess der Frömmigkeit. Mit dem Rückzug aus der Gemeinde, sichtbar am Rückgang des Kirchenbesuchs, kam es gleichzeitig zu einer Verkirchlichung der Religiosität. Eine zunehmende Spannung zwischen Gemeinde und einer privaten, intimeren Äußerung von Frömmigkeit wurde in der Aufklärungszeit spürbar. Hölscher weist zu Recht auf den Wandel der Gottesvorstellung hin: Eine spezielle Vorsehung Gottes für diese Welt, eine Naturfrömmigkeit mit einer Ablehnung der Wundervorstellungen und dem Menschen und seinem ethisch verantworteten und vernunftgemäß begründeten tugendhaften Handeln im Zentrum. Die konfessionalistisch gezogenen Grenzen verwischen sich in der Aufklärung durch die Toleranz gegenüber anderen Konfessionen zum Teil.
Das lange 19. Jahrhundert steht für Hölscher unter dem Aspekt einer groß angelegten Kirchenreform. In diesem mehr als die Hälfte der Studie umfassenden Teil (175-400) konstatiert er zunächst einen Wandel des kirchlichen Lebens. Auf der Basis eigener Studien wird die unterschiedliche Entwicklung des Protestantismus in den deutschen Ländern herausgearbeitet. Nach einem zeitweisen Anstieg der Abendmahlsbeteiligung sanken die Zahlen im Zug der Urbanisierung. Stadt und Land glichen sich in einer ritualisierten, die Kirche an den Lebenswenden beanspruchenden, ansonsten aber privatisierten Frömmigkeit einander an. Ansteigende Zahlen verbuchte vor allem die kirchliche Beerdigungsfeier, deren Bedeutung mit der bürgerlichen Repräsentation auf kommunalen Friedhöfen korrelierte.
Dabei suchte das 19. Jahrhundert noch einmal nach einer Einheit für den sich zersplitternden Protestantismus. Die Bekenntnisunionen mussten sich allerdings gegen den theologischen Pluralismus erst durchsetzen. Unionisten, Neu- und Altlutheraner fanden sich in allen regionalen Differenzierungen des Protestantismus und in den von Reisenden wahrgenommenen landsmannschaftlichen Besonderheiten. Die Typen regionaler Frömmigkeitskultur zeigten sich auch im Umbau der Kirchenverfassung. Ohne Olaf Blaschkes kontrovers diskutierte These von einem "zweiten konfessionellen Zeitalter" aufzunehmen, weist Hölscher auf den Begriff der "Konfession" als neu für das 19. Jahrhundert hin. Eine Verselbstständigung der Kirche gegenüber dem Staat gelang in diesem Zeitraum freilich nicht. Dagegen gewann die Kirchengemeinde als eigene Rechtsgröße und "Grundbaustein eines neuen liberalen Kirchenkonzepts" (254) an Bedeutung. Neue Leitungsstrukturen (Synoden) und Organisationen (Vereine) wurden von der kirchlichen Presse unterstützt und fanden in einem neuen Pfarrertypus, "der theologisch in der Regel eher konfessionalistisch oder erweckt" war (273), einen wirksamen Propagator.
Autobiografischen Zeugnissen folgt Hölscher in dem spannenden Kapitel über die religiöse Sozialisation. Dabei kontrastiert er strenge Erziehungsprinzipien mit gelungener und misslungener Wertevermittlung. Sozialisation bedeutete im Protestantismus des 19. Jahrhundert nicht nur Hineinwachsen in die Religion, sondern auch in bürgerliche Verhaltensweisen, spezifiziert nach Geschlecht, Stand und Beruf. Dass dahinter gewaltige theologische Richtungsauseinandersetzungen standen, exemplifiziert Hölscher an den Kontroversen um den Glauben an einen persönlichen Gott, um Gebet und Wunder sowie um den Jenseitsglauben.
Alle diese Entwicklungen, in die Hölscher mit großer Sachkenntnis einführt, offenbaren die Vielfalt des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert. Das letzte Teilkapitel des Buches greift diesen Gedanken noch einmal auf und bietet ein breites Panorama der unter dem Stichwort "religiöse Entzweiung" subsumierten Strömungen. So wie sich die Regionen konfessionell durchmischten, so bildeten sich im Protestantismus und neben ihm neue religiöse Gruppierungen. Hölscher benennt im Einzelnen freimaurerische Gruppen, die Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung und freikirchliche Gründungen. Aber auch unter den Sozialisten konstatiert er religiöse Ansätze. Das religiöse Spektrum weitet er aus auf Bildungsreligionen - den Kult um Goethe, Schiller, Wagner, Schopenhauer und Nietzsche - und Gruppen der Lebensreform, um mit einem Blick auf die Anthroposophie die Analyse außerchristlicher Gruppierungen mit einem religiösen Anspruch abzuschließen.
Hölscher hat ein beachtliches und beachtenswertes Werk vorgelegt. Auf 400 Seiten führt er den Leser durch fast 500 Jahre protestantischer Frömmigkeitsgeschichte. Dabei gelingt es ihm, Schneisen durch das Dickicht der Personen und Gruppen, der Theologien und ihrer Umsetzung in religiöses Handeln zu schlagen. Wenn der Schutzumschlag eigens darauf hinweist, es helfe, "den Blick für neue religiöse Orientierungen in einer Zeit der Auflösung traditioneller kirchlicher Bindungen" zu schärfen, ist damit ein zusätzlicher Mehrwert ausgedrückt, der über die fundierte historische Analyse hinausgeht.
Joachim Schmiedl