Hans D. Pflug: Umweltgeschichte der Erde. Die Zukunft im Spiegel der Vergangenheit (= Berichte aus der Geowissenschaft), Aachen: Shaker Verlag 2004, VI + 269 S., ISBN 978-3-8322-2730-2, EUR 32,50
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Leserinnen und Leser der "sehepunkte" - die meisten von ihnen wohl wie der Rezensent geschichtswissenschaftlich sozialisiert - werden dem Letztgenannten hoffentlich seine Irritation angesichts des vorliegenden Werkes nachsehen. Zunächst tut sich, wer schon im historischen Proseminar Geschichte als "memoria delle cose humane" (Francesco Patrizi, 1560) und das Agieren und Reagieren des Menschen in der Vergangenheit als zentralen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses kennen gelernt hat, schwer mit einer Monografie, die auf gut zweihundert Seiten einen Abriss von 4,6 Milliarden Jahren Erd- und Evolutionsgeschichte versucht und dem Menschen dabei in etwa den Platz zuweist, der ihm angesichts seines späten Auftretens auf dem Planeten zukommt. Als Geologe handelt der Autor so weit sicher nicht unlogisch. Nur versieht er seine Abhandlung mit dem Etikett "Umweltgeschichte" und erhebt den Anspruch, mittels dieser - jenseits bloßer "Gebrauchsanweisung für Umweltpolitiker" - heutigen Menschen ihre Umwelt verständlich zu machen (III, V). Pflugs Monografie trägt ihren Titel zurecht, wenn man die weitest mögliche Aufgabenbeschreibung von "Umweltgeschichte" unterstellt: "The field of environmental history chronicles and analyses the dynamics of life on Earth." [1] Doch dass sie dabei nicht stehen bleiben kann, unterstreichen nicht nur die folgenden Seiten der eben zitierten Lexikon-Einleitung. Vielmehr hat sich als einer der wenigen Grundkonsense in der mittlerweile rund 25-jährigen Entwicklung des interdisziplinären Forschungsfeldes "Umweltgeschichte" erwiesen, dass es dabei im Kern um das vielschichtige Wechselverhältnis zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt zu tun ist. [2]
Hans Dieter Pflug positioniert sich weder zur angloamerikanischen noch zur deutschsprachigen umwelthistorischen Diskussion, sondern definiert einleitend - sehr kurz - ein eigenes Konzept von "Umweltgeschichte": Dieses Thema habe "mehrere Aspekte, so die Umwelt der Erde im kosmischen Raum, die Umwelt auf der Erde, die Umwelt, die den Menschen geformt hat." (Vorwort) Der verwendete Umweltbegriff ist weit und tendenziell vage. [3]
Aus diesem Konzept entwickelt Pflug die Gliederung seiner Darstellung: Ein erstes Hauptkapitel ("Die Urbarmachung der Erde", nicht zu verstehen im agrikulturellen Sinne als menschliche Einflussnahme) widmet sich der Entstehung und Bedeutung des Wassers auf unserem Planeten, der Uratmosphäre sowie der mineralogischen und morphologischen Frühentwicklung. Interessant dabei: Pflugs Eingehen auf die präbiotische Entwicklung und früheste mikrobielle Lebensformen (u. a. Cyanobakterien) macht die wichtige Rolle dieser frühen biotischen Formen für die geologische Entwicklung deutlich. So schildert er am Beispiel der Metalle den Anteil von Mikroben an der Entstehung von Mineralien und thematisiert die Mitwirkung fotosynthetisch aktiver Mikroben an der Bodenbildung des Festlandes vor drei Milliarden Jahren.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Entwicklung des Lebens in den Küsten- bzw. Schelfmeeren, während die Kapitel drei und vier den evolutiven Weg des Lebens ans Land verfolgen. Interessant ist der Hinweis, dass für viele Formen der Weg nicht einfach vom Wasser aufs Land, sondern in andere Organismen führte. Pflug beschreibt im Zusammenhang mit dem sich ausbildenden Parasitismus den Körper von Pflanzen und Tieren als den drittgrößten Lebensraum der Erde und als "dramatischen Kampfplatz zwischen Evolution und Infektion" (77). Das fünfte Hauptkapitel zeichnet die Landbesiedlung durch Sprosspflanzen, die Entwicklung zwischen Bodenalgen und Küstentangen auf der einen und den ausdifferenzierten Steinkohlewäldern auf der anderen Seite nach. Das sechste Kapitel widmet sich den Vierfüßern und verfolgt dabei evolutive Konjunkturen wie die der Dinosaurier und der Säugetiere. Pflug legt großen Wert auf den Einfluss klimatischer Umbrüche auf das Artensterben.
Kapitel 7 ("Die festländische Umweltgeschichte") thematisiert verschiedene Implikationen der weiteren festländischen Reliefentwicklung: die Entstehung eines Gewässernetzes (Pflug unterstreicht hier die Bedeutung des Aufkommens einer leistungsfähigen Flussdrainage als Voraussetzung für die Nährstoffversorgung der gesamten Biosphäre), den Aufbau von Nahrungsketten und die zentrale Rolle phosphathaltiger Substanzen in diesem Kontext, die Ausbreitung von Pflanzen - v. a. Bedecktsamern - auf dem Festland, die Entwicklung des Lebens in Binnengewässern und die evolutive Bedeutung der Kontinentaldrift, der dabei sich verändernden Wanderungswege, Störzonen und Barrieren.
Das achte Kapitel widmet sich der "Umwelt des Menschen": den klimatischen Rahmenbedingungen der Menschwerdung in der Erdneuzeit und der Landschaftsentwicklung dieser Phase. Kernbereiche dessen, was die "Mainstream"-Umweltgeschichte untersucht, werden auf den wenigen Seiten der Unterkapitel 8.5 ("Umweltgeschichte der Zivilisationen", 213-215) und 8.6 ("Die Kosten der Zivilisation", 215-217) abgehandelt. Die Entstehung und Entwicklung der Landwirtschaft findet - fern der umwelthistorischen Betonung der "neolithischen Revolution" - recht lapidar Erwähnung (214), auch ein anderer umwelthistorischer "turning point", die Industrialisierung samt Wandel des Energiesystems, scheint nur bei den "Kosten der Zivilisation" durch. Stattdessen skizziert Pflug in nur drei Absätzen einen recht gespannten Bogen von der Landwirtschaft über den Seehandel zur Infogesellschaft (die "wenige[n] Jahrhunderte" zwischen "Ochsenkarren und Raketen, Handschrift und Nachrichtensatelliten", 215) und erklärt den Umwelterfolg des Menschen resümierend "weniger aus biologischem als aus informatorischem Potential". Er charakterisiert die "zivilisatorische Evolution" als "Lamarkische[n] Prozess", als "Sache des direkten Lernens und Weitergabe des Wissens an die nächste Generation" (ebd.). Als "Kosten der Zivilisation" finden zuvorderst die Versorgung einer rasant zunehmenden Weltbevölkerung, die Ressourcenverschwendung und Probleme der modernen Landwirtschaft wie Schädlingsbefall und Sortenwahl, Artenverlust, Bewässerung und Erosion Erwähnung. Die Bodenverarmung und die Entwicklung des Kunstdüngers als Chance, aber auch den drohenden Phosphatmangel als Knappheitsszenario schließen diesen Punkt ab. Kapitel 9 ("Blick in die Zukunft") gewährt zunächst einen Blick zurück in die Entwicklung historischer Klimaphasen. Die Diskussion des eiszeitlich-zwischeneiszeitlichen Kalt-Warm-Wechsels ("Leben in der Kälte", 218 f.) kommt dabei ohne jedes Eingehen auf die aktuellen wissenschaftlichen wie publizistischen Debatten um anthropogenen Klimawandel aus.
Für die fachliche Beurteilung weiter Teile der Darstellung Pflugs fehlt dem Rezensenten das nötige geologische, evolutions- und mikrobiologische Wissen. Konsistent wirkt, dass der Autor geologische und klimatische Prozesse stets in engem Zusammenhang mit biochemischen und physiologischen Mechanismen und Strategien biotischer Organismen diskutiert. Insgesamt entwirft Hans Dieter Pflug ein weitgehend bruchlos positivistisches Narrativ der Erd- und Evolutionsgeschichte. Nur an wenigen Stellen scheint die Existenz divergierender Forschungsmeinungen auf - etwa in Pflugs Abgrenzung von der These eines Meteoriteneinschlags als Ursache für das Aussterben der Dinosaurier (146); solche Divergenzen werden aber allenfalls angedeutet, nicht diskutiert. Das Bild von der menschlichen Aktivität in ihrer einzigartigen umweltbeeinflussenden Dimension bleibt blass. Jegliche Einsicht in die kulturelle Bedingtheit der menschlichen Wahrnehmung der natürlichen Umwelt - und damit auch des eigenen wissenschaftlichen Zugangs - fehlt oder wird ausgeblendet. Dieses Fehlen tritt angesichts der Verwendung zweier kulturgeschichtlicher Bildquellen, einer Darstellung eines Ausbruchs des Ätna aus dem 16. Jahrhundert (Titelbild) und einer altchinesischen Darstellung von Bogenschützen im bewaffneten "Kampf" gegen Flutwellen (VI) umso deutlicher zu Tage. Sie dienen rein dekorativen Zwecken, jegliche argumentative Bezugnahme im Text unterbleibt, ihr analytisches Potenzial bleibt ungenutzt. So ist in Hans Dieter Pflugs Monografie ein nur bedingt gelungener umwelthistorischer Beitrag zu sehen.
Anmerkungen:
[1] Encyclopedia of World Environmental History, New York / London 2004, Bd. 1, X.
[2] Dezidiert sich vom älteren Umweltdeterminismus absetzend etwa Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, 13 f.
[3] Hilfreich zu Problematik und Begriffsgeschichte wäre: Verena Winiwarter: Umwelt-en. Begrifflichkeit und Problembewußtsein, in: dies. / Gerhard Jaritz (Hg.): Umweltbewältigung. Die historische Perspektive, Bielefeld 1994, 130-159.
Martin Knoll