Rezension über:

Gert von Pistohlkors / Matthias Weber (Hgg.): Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 26), München: Oldenbourg 2005, 264 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-57819-5, EUR 24,80
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Rezension von:
Karsten Brüggemann
Nordost-Institut, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Karsten Brüggemann: Rezension von: Gert von Pistohlkors / Matthias Weber (Hgg.): Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag, München: Oldenbourg 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/10558.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Gert von Pistohlkors / Matthias Weber (Hgg.): Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum

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In einer wesentlichen Hinsicht ist diese Festschrift wirklich gelungen: Die Themen der neun Beiträge decken die eigenen Forschungsinteressen des Jubilars adäquat ab. Ob Minderheitenpolitik oder -schutz, ob Kulturautonomie oder Historiografie, ob Paul Schiemann oder Siegfried von Vegesack - zu den meisten der in diesem Band angeschnittenen Bereiche hat sich Michael Garleff im Laufe seiner langjährigen Beschäftigung mit der baltischen Geschichte selbst geäußert, was die von Gabriele Garleff zusammengestellte Bibliografie (225-257) nur unterstreicht. Dass auch er selbst sich in seiner Festschrift äußern darf - für dieses Genre ja eher ungewöhnlich -, hängt wiederum mit der zweiten Bezugsperson dieses Bandes zusammen, auf die bereits im Titel verwiesen wird: Georg von Rauch, Garleffs Kieler akademischer Lehrer, dessen Geburtstag sich 2004 zum 100. Mal jährte. Garleffs eigener Beitrag über von Rauch und die baltische Geschichtsforschung (207-223), aus Anlass dieses Jubiläums verfasst, bietet eine interessante, zum Teil mit privater Korrespondenz illustrierte Würdigung des Gelehrten, für den Klio immer ein Janusgesicht hatte: eines mit russischen und eines mit baltischen Zügen. Im anzuzeigenden Band jedoch spielt die russische Seite keine Rolle - außer dass sie zuweilen als Hintergrundfolie in meist negativen Tönen auftaucht. Erwähnt sei, dass die Beiträge einem Symposion entstammen, das aus Anlass der Verabschiedung Garleffs als Direktor des Oldenburger BKGE im April 2004 unter dem Titel "Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum" stattgefunden hat.

Um den russischen Faktor nicht herum kommen Gert von Pistohlkors und Detlef Henning in ihren Darstellungen der Minderheitenfragen im baltischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert. Dass von Pistohlkors seinen Überblick über die Wandlungen des deutschbaltischen Selbstverständnisses im späten Zarenreich unter die Überschrift "Ursprung und Entwicklung ethnischer Minderheiten" stellt, mutet dabei etwas konstruiert an, schon weil seine Ausführungen just 1919 enden, als sich die Deutschbalten nolens volens tatsächlich als nationale Minderheit begreifen lernen mussten. So steht bei ihm eher die Frage im Vordergrund, wie die verschiedenen deutschbaltischen Lager auf die Herausforderungen seitens der russischen Zentrale bzw. der entscheidend früher nationale Argumente ins Spiel bringenden Öffentlichkeit sowie der Esten und Letten reagierten. Indem er seine kluge Analyse der nach außen so polarisierenden wie nach innen integrierenden Schirren-Samarin-Kontroverse ins Zentrum des Artikels stellt, nimmt er sich allerdings die Möglichkeit, deutschbaltische Identität um die Jahrhundertwende einmal von der Pluralität her zu denken. Eine Geschichte der Deutschbalten in der Transformationsphase von der Revolution von 1905 bis etwa zur Verkündung der estnischen Kulturautonomie von 1925 bleibt weiterhin ein Desiderat.

Wie unterschiedlich deutschbaltische Lebenswege im 20. Jahrhundert aussehen konnten, belegen die Beiträge von Jörg Hackmann zu Werner Hasselblatt und John Hiden zu Paul Schiemann. [1] Ganz im Gegensatz zu Letzterem hat der Minderheitenpolitiker der Zwischenkriegszeit Hasselblatt den Verlust der einst privilegierten Stellung der deutschbaltischen Oberschicht nie akzeptiert und wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einem "Vordenker der Vernichtung" gerade der ethnischen Minderheiten Ostmitteleuropas. Hackmann kommt nach einem ausführlich abwägenden Beitrag zu dem Schluss, "daß in der prinzipiellen Abneigung gegen den Begriff der nationalen Minderheit eine längerwirkende Kontinuitätslinie in Hasselblatts Praxis und Denken zu sehen ist, die für eine auf Gewalt gegründete Politik tendenziell anfällig war" (205). Gerade im Lichte der "Karriere" Hasselblatts mag die vorsichtige Wertung von Pistohlkors', die Deutschbalten seien auf Grund ihres langen "Vortrainings" nach 1919 "abgehärtet" genug gewesen, "um sich auch in der ungewohnten Rolle einer Minderheit im Verfassungsstaat der politischen Auseinandersetzung zu stellen" (34), in ihrer Pauschalität doch als zu gewagt erscheinen.

Detlev Henning beschreitet bekannte Pfade in der Darstellung von "Formen kultureller Autonomie" im Baltikum. Nach dem vorangegangenen Überblick über Theoretiker des Minderheitenrechts und der nationalen Autonomie von Dietmar Willoweit bietet er - mit einem regionalen Schwerpunkt in Lettland - Anschauungsunterricht über die Umsetzung von Konzepten in die Praxis, wobei er die Brücke zwischen der Zwischenkriegszeit und der Gegenwart schlägt. Die Frage, ob vorbildliche Kulturautonomiegesetze aus dem Jahr 1925 unter erheblich veränderten strukturellen Bedingungen heutzutage noch funktional sein können, bleibt jedoch unerörtert. Gerade in Bezug auf die Gegenwart bleibt zu hoffen, dass in Zukunft einmal eine Arbeit detailliert die Dialektik zwischen den baltischen Hauptstädten, den europäischen Gremien sowie Moskau und den russischen Minderheitenfunktionären in Estland und Lettland untersuchen wird. Auch Helēna Šimkuvas Beitrag über "Minderheitenpolitik in Lettland" ist vor allem auf Grund ihrer Darstellung der jüngsten Entwicklungen bemerkenswert, indem sie die Differenziertheit der lettischen Reformen für das russischsprachige Schulwesen des Landes darstellt; tatsächlich besteht das Problem ja - wie in Estland - nicht so sehr in den "unannehmbaren" Forderungen der jungen Republiken, sondern einer verbreiteten Verweigerungshaltung oder zumindest institutionellen Trägheit der russischen Seite, sich auf die jeweilige Landessprache einzulassen. Dass nicht zuletzt auch kulturchauvinistische Einstellungen gegenüber den so genannten "Bauernsprachen" vor allem in den älteren Generationen der russischsprachigen Minderheiten verbreitet sind, belegt Henning für Lettland; der Rezensent kann auch im Falle der estnischen Russen ein Lied davon singen.

Während Heinrich Wittram in bewährter Weise in das Verhältnis zwischen "Kirche, Staat und Minderheiten in Estland und Lettland 1920-1940" bis in die Gegenwart einführt - wobei ein Blick in das katholische Litauen sicher als Vergleich nicht geschadet hätte -, betritt Armin von Ungern-Sternberg mit seinem Beitrag "Archäologie und Dekonstruktion des kulturellen Erbes" anhand von Siegfried von Vegesack neues Terrain. Literarische Texte deutschbaltischer Autoren, so die These des Autors, seien erst in dem Moment "baltisch" geworden, als ihre Protagonisten ihre Heimat verloren hatten und in der traditionellen "geistigen Heimat", dem "Mutterland" Deutschland, erst einmal ankommen mussten. Stilistisch allerdings ist dieser spannende Beitrag über eine Selbstvergewisserung außerhalb des Selbstgewissens nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Zitaten des gewählten "Helden". So sehr dies am Anfang auch interessiert, ermüdet es doch zusehends, wenn der Autor seine Rolle hinter der eines Kompilators versteckt.

Tiit Rosenbergs Beitrag "Das Anknüpfen an Geschichtsverständnis und demokratische Traditionen im wieder unabhängigen Estland" bleibt einer deskriptiven Tradition von Historiografiegeschichte treu, der politische Zäsuren, durch welche die äußeren Rahmenbedingungen von Geschichtsschreibung verändert werden, wichtiger erscheinen als intradisziplinäre. Dass Geschichte in Estland vor allem Geschichte Estlands war, ist und wohl auch bleiben wird, erscheint selbstverständlich. Der eigenen Vergangenheit "einen Sinn" zu geben, ist nicht nur nach 1918 oder seit 1991 Ziel estnischer Geschichtsschreibung gewesen, sondern auch - unter erheblich anderen Vorzeichen natürlich - in sowjetischer Zeit. Dass diese Sinnsuche heutzutage durchaus die Dekonstruktion lieb gewordener "heroischer" Bilder der eigenen Vergangenheit einschließt, ist, hier ist Rosenberg zuzustimmen, Anzeichen einer gewissen "Reife der Geschichtswissenschaft", vor allem auch im ostmitteleuropäischen Vergleich. [2] Die Aussage, dass eine Gesamtgeschichte Estlands heute "als Geschichte eines multinationalen Landes mit pluralistischer Kultur" verstanden wird, steht allerdings den Thesen der Zwischenkriegszeit, denen zufolge das estnische Volk im Mittelpunkt der Historiografie stehen sollte, in ihrem zunächst rein programmatischen Gehalt in nichts nach. Der Beweis, dass eine "pluralistische Kultur" mehr ist als die bloße Addition diverser nationaler Kulturen, hat die estnische Historikerzunft bislang jedenfalls noch nicht erbracht.

Zwar sucht man in dieser Festschrift vergeblich nach innovativen Ansätzen, doch bietet sie eine solide Gesamtschau des aktuellen Forschungsstands zum Thema der Minderheitenpolitiken im Baltikum im 20. Jahrhundert. Möge sie als Grundlage weiterer Forschungen dienen, die, wenn man Rosenberg beim Wort nimmt, in die Richtung einer Kulturgeschichte des Baltikums gehen müssten, in der die antizipierten Grenzen zwischen verschiedenen Nationalitäten nicht als Grenze des Forschungsansatzes gesehen werden dürften.


Anmerkungen:

[1] Siehe meine ausführliche Rezension zu Hidens Schiemann-Biografie unter http://www.history.ac.uk/reviews/paper/bruggemann.html.

[2] Hierzu ausführlich Stefan Troebst: Postkommunistische Erinnerungskulturen im östlichen Europa. Bestandsaufnahme, Kategorisierung, Periodisierung, Wrocław 2005 (Raporty Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta Uniwersytetu Wrocławskiego, 7).

Karsten Brüggemann