Anke Stephan: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen (= Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas; Bd. 13), Zürich: Pano Verlag 2005, 584 S., ISBN 978-3-907576-83-0, EUR 37,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Form / Oliver Uthe (Hgg.): NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938-1945, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004
Marc Jansen / Petrov Nikita: Stalin's Loyal Executioner. People's Commissar Nikolai Ezhov, 1895-1940, Stanford, CA: Hoover Institution Press 2002
Hans-Ludwig Grabowski: Das Geld des Terrors. Geld und Geldersatz in deutschen Konzentrationslagern und Ghettos 1933 bis 1945. Dokumentation und Katalog, basierend auf Belegen der zeitgeschichtlichen Sammlung Wolfgang Haney sowie aus weiteren Sammlungen und Archiven, Regenstauf: Battenberg Gietl Verlag 2008
"Das ist mein Lebenswerk, nun machen sie es vor meinen Augen kaputt." Ljudmila Alekseeva, die Vorsitzende der 1976 von dem Physiker Jurij Orlov initiierten Moskauer Helsinki-Gruppe, die bis heute besteht [1], ist in Sorge um das Erbe der russischen Menschenrechtsbewegung und die NGO-Szene insgesamt. Auslöser sind jüngste Medienattacken, mit denen die Helsinki-Gruppe als westliche Spionage-Agentur diskreditiert werden soll und zu denen die drohende Begleitmusik des immer mächtiger werdenden Geheimdienstes FSB erklingt. [2] Angesichts des grobschlächtigen Versuchs der Rufschädigung politisch Missliebiger stellt sich ein Déjà-vu-Effekt ein. Das alte Feindbild vom bezahlten Westagenten ist in Russland offenkundig immer noch abrufbar. Tatsächlich beziehen russische NGOs finanzielle Unterstützung von westlichen Institutionen. Das kann man in der Regel auf ihren homepages nachlesen. Und tatsächlich haben schon die Dissidenten der 70er-Jahre in ihrem Kampf für die Menschenrechte in Russland auch auf westliche Unterstützung gesetzt. Nicht wenige von ihnen mussten emigrieren und sind natürlich nicht nach China oder Saudiarabien gegangen, sondern in die USA oder nach Westeuropa. Und doch täuschen sich die russischen gosudarstvenniki, die Anhänger einer autoritären Staatlichkeit, ebenso wie viele westliche Liberale, wenn sie die Dissidenten als Leute des Westens im Osten betrachten.
In ihrer Studie über die Lebenswege sowjetischer - konkret vor allem russischer - Dissidentinnen zeigt Anke Stephan äußerst plastisch, wie tief die Dissidentenbewegung in der russisch-sowjetischen Geschichte wurzelt und durch entsprechende Denkmuster und Rollenbilder geprägt ist. Mit ihrem Ansatz, die weibliche Seite der Dissidenz zum Gegenstand zu machen und dabei weniger die bereits einigermaßen erforschte politische Geschichte, sondern stärker Geschlechterverhältnisse, Alltagsgeschichte und Konturen dissidentischer Lebenswelten zu thematisieren, eröffnet sie neue Perspektiven, die über die Wahrnehmungsmuster des Kalten Krieges hinausweisen, ohne die moralische und politische Substanz der Bewegung zu relativieren oder gar zu bagatellisieren. Ihre historische Tiefenschärfe gewinnt die Arbeit nicht zuletzt dadurch, dass sie Lebensgeschichten und sowjetische Geschichte miteinander verzahnt. Die zentrale Quellengruppe bilden vielfältige Ego-Dokumente und autobiografische Zeugnisse, darunter auch über 20 Interviews, die Anke Stephan mit Aktivistinnen der Dissidentenbewegung geführt hat. Methodisch subtil und zugleich in unprätentiöser und klarer Sprache untersucht sie die Frage, wie sich die zeitgenössischen Diskurse in die Erinnerungen der Dissidentinnen eingeschrieben und ihre Erfahrungen strukturiert haben. Damit kann sie aufzeigen, dass die Dissidentinnen und Dissidenten nicht nur Herausforderer der sowjetischen Gesellschaft, sondern dieser in Denkstil und Habitus zugleich stark verhaftet waren, dass die Dissidenz kein Fremdkörper, sondern ein urwüchsiger Bestandteil dieser Gesellschaft war. Diese Stärken haben der Arbeit bzw. ihrer Autorin den nach Klaus Mehnert benannten Nachwuchsförderpreis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und den Fakultätspreis der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel für das Jahr 2005 eingetragen.
Die soziale Herkunft der russischen Dissidentinnen weist zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Viele kamen aus Familien, denen die Oktoberrevolution einen sozialen Aufstieg und den Zugang zu Bildung ermöglicht hatte. Unter den Eltern der überwiegend in den 20er- und 30er-Jahren geborenen "Andersdenkenden" dominieren Angehörige der technisch-wissenschaftlichen und politisch-administrativen intelligencija. Geistige Wurzeln der Dissidenz waren nicht irgendwelche westliche Einflüsse, sondern kommunistische Überzeugung, revolutionäre Begeisterung und nicht zuletzt der aufrichtige Patriotismus, der durch den Überfall des nationalsozialistischen Deutschland 1941 ausgelöst wurde. Kampf und Sieg verliehen der in den Dreißigerjahren durch Kollektivierung, Hungersnot und Großen Terror schwer verwundeten Gesellschaft der Sowjetunion neues Selbstbewusstsein, das sich auch in weit verbreiteten Liberalisierungshoffnungen ausdrückte, die der Spätstalinismus allerdings mit einer Mischung aus einem als Surrogat servierten Chauvinismus und massiver Repression zu bändigen wusste. Die Berichte von Kriegsheimkehrern über militärische Fehlleistungen der Führung und die - von der stalinistischen Propaganda völlig verzerrt dargestellte - Realität des Lebens im Ausland trugen indes das ihre dazu bei, Keime eines Freiheitsverlangens zu setzen, das sich mit Verzögerung entfalten sollte. Für manche Dissidenten war es aber auch schon die Erfahrung des stalinistischen Terrors gewesen, die sie zu fundamentalen Gegnern des Regimes machte, so etwa Elena Bonner, Andrej Sacharovs spätere Ehefrau, deren Eltern 1937 verhaftet wurden. Kinder von "Volksfeinden" hatten, neben allen anderen Verletzungen, in besonderem Maße an Entfremdung und Isolation zu leiden. Ein interessanter sozialpsychologischer Befund Stephans ist aber, dass auch Dissidentinnen, die als Töchter etablierter und vom Terror nicht direkt betroffener Familien aufwuchsen, häufig über ein Gefühl des Außenseitertums berichten, das sie geprägt habe. In vielen Fällen folgten die Mütter dem sowjetischen Ideal der emanzipierten Frau und engagierten sich so massiv in Beruf und politischer Arbeit, dass sie von den Töchtern zwar als Respektspersonen, aber zugleich auch als abwesend und fremd empfunden wurden.
Die ersten Schritte in den Dissens erfolgten zumeist in der zutiefst widersprüchlichen Nachkriegszeit. Viele empfanden die antisemitische Kampagne der Jahre 1948-1953 als abstoßend, andere waren als Juden selbst direkt davon betroffen. Die Privilegierung der Kriegsheimkehrer, die Zugang zu Bildungseinrichtungen und Leitungsfunktionen ohne entsprechende Qualifikation erhielten, wurde nicht nur vielfach als Benachteiligung empfunden, sondern evozierte auch tief eingewurzelte Denkmuster über die Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht.
Trotz dieser Vorbehalte berichten viele der von Stephan Befragten über die Erschütterung, die der Tod Stalins zunächst bei ihnen ausgelöst habe. Das "Tauwetter" brachte dann die Begegnung mit neuen kulturellen Einflüssen wie Jazz und abstrakter Kunst, die stecken gebliebene Entstalinisierung unter Chruščev schärfte das Bewusstsein für eine totalitäre Vergangenheit, die alles andere als vergangen war. Es entstanden Freundschaftsnetzwerke von Intellektuellen, kompanii, die nach freiem persönlichen Ausdruck strebten, "Reinkarnation der alten intelligencija", wie Stephan feststellt (245). In diesen Kreisen pflegte man auch ein freizügigeres Verhältnis zur Sexualität, als es die offizielle Prüderie forderte. Die traditionellen Geschlechterrollen wurden indes nicht infrage gestellt. So waren es die Frauen, die neben Berufsarbeit und der intensiven Beteiligung am inoffiziellen Gruppenleben die herkömmlichen Hausarbeits- und Erziehungsaufgaben zu bewältigen hatten. In der Kombination von Berufsarbeit, Zuständigkeit für Reproduktionsaufgaben und Gruppen- bzw. später politischem Aktivismus erkennt die Autorin ein Abbild der seit den Dreißigerjahren propagierten Rollenvorstellungen.
Den "Startschuss" der Dissidentenbewegung bildete der Prozess gegen die Schriftsteller Julij Daniėl' und Andrej Sinjawskij, die unter Umgehung der Zensur und unter Pseudonymen im Westen Erzählungen veröffentlicht hatten. Larisa Bogoraz, die eigentlich dabei gewesen war, sich von Daniėl' scheiden zu lassen, solidarisierte sich nun vorbehaltlos mit ihm, ebenso wie Sinjavkijs Frau Marija Rozonva mit ihrem Mann. Die beiden Frauen zogen zusammen und führten den Kampf gemeinsam. "Ein politischer Gefangener brauchte eine Ehefrau, die einen Anwalt besorgte, den Prozess überwachte, den Freundeskreis über die Fortgänge unterrichtete, Lebensmittelpakete schickte und den Häftling im Lager besuchte", beschreibt Ljudmila Alekseeva die Rolle, die Bogoraz und Rozonova gewissermaßen als "Avantgarde" entwickelten, wobei man auch hier gewisse Züge eines alten Vorbildes, nämlich der viel gerühmten Frauen der Dekabristen des 19. Jahrhunderts entdecken kann.
In dem Maße, wie sich die Dissidentenbewegung politisierte - die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Gegendemonstration von sieben Andersdenkenden, unter ihnen Bogoraz, auf dem Roten Platz am 25. August 1968 hatten dabei eine Schlüsselfunktion - und der Staat mit immer härteren Verfolgungen reagierte, entwickelten sich zwei grundlegende Rollenmuster für die Frauen in der Bewegung, die man als "Helferin" und "Heldin" bezeichnen könnte. Die Leistungen der Ersteren reichten vom Abtippen von Samizdattexten bis zur treuen Unterstützung gefangener Ehemänner. Aus der Arbeit für die Gefangenen erwuchs zugleich eine weitere Vernetzung der Bewegung. Dazu kam die traditionelle Zuständigkeit für den byt, das Funktionieren des Alltagslebens, und in diesem Zusammenhang immer öfter auch der alleinige Erwerb des materiellen Unterhalts für die Familien. "Mit der Emanzipation vom System war also keine Emanzipation im Alltag verbunden." (407). Das galt letztlich auch für jene Frauen, die als Aktivistinnen in der vordersten Reihe der Bewegung standen, die "Heldinnen", selbst wenn sie einen Partner hatten. Viele Frauen hätten sich in der Dissidentenbewegung dennoch als gleichberechtigt empfunden, weil sich ihre Vorstellungen von Gleichberechtigung allein auf den öffentlichen Bereich beschränkt hätten, stellt Stephan fest.
Anders wurde das in der Ende der 70er-Jahre entstandenen unabhängigen Frauenbewegung in Leningrad gesehen, der Stephan ein eigenes, umfangreiches Kapitel ihrer Arbeit gewidmet hat. Sie wurde von Frauen getragen, die jünger waren als die "klassischen Dissidenten". Auch sie hatten häufig ihre geistigen Wurzeln in der "zweiten Kultur". Den Anstoß zu dissidentischer Aktivität erhielten sie aus der Krise des Geschlechterverhältnisses. Das Verständnis der Leningraderinnen von Feminismus unterschied sich allerdings grundlegend von demjenigen der "neuen Frauenbewegung" im Westen. Auch bei der Leningrader Frauenbewegung konstatiert Stephan eine spezifisch russische Prägung, die ihren Ausdruck unter anderem darin fand, dass sich ein Zweig als ausgesprochen religiöse, an der Orthodoxie orientierte Gruppe konstituierte. Die Autorin hebt hervor, dass die Frauenbewegung sich durch ihre Thematisierung sozialer Widersprüche auszeichnete, während die sonstige russische Dissidentenbewegung fast ausschließlich politisch-kulturell ausgerichtet war.
Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und im Zusammenhang mit der Olympiade in Moskau 1980 wurden praktisch alle Gruppen der Dissidentenbewegung zerschlagen. Jurij Andropov hatte als KGB- und späterer Parteichef maßgeblichen Anteil daran. Das opferreiche Engagement der Dissidenten und Dissidentinnen war jedoch, so Anke Stephan, nicht vergebens. Sie hätten das Fundament dafür gelegt, dass die russische Gesellschaft heute liberaler und demokratischer geworden sei. Der Umgang mit dem Erbe der Dissidentenbewegung, so wäre zu ergänzen, ist daher dauerhaft ein zentraler Gradmesser für Demokratie und Liberalität in Russland.
Anmerkungen:
[2] Daniel Brössler: Paranoia in Orange, Süddeutsche Zeitung vom 1.2.2006.
Jürgen Zarusky