Rezension über:

Werner Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940 bis 1963. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger, Sylvia Taschka (= Biographische Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 22), München: Oldenbourg 2005, 298 S., ISBN 978-3-486-20023-2, EUR 34,80
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Rezension von:
Alice Bolterauer
Institut für Germanistik, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Alice Bolterauer: Rezension von: Werner Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940 bis 1963. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger, Sylvia Taschka, München: Oldenbourg 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/8331.html


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Werner Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur

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Wer noch wie ich Werner Bergengruens Novelle "Die Feuerprobe" als Pflichtlektüre im Gymnasium gelesen und davon die Erinnerung an eine grandiose Mischung aus historischem Kolorit und großer Moralität mitgenommen hat, wird sich freuen, in dem vorliegenden Band ausgewählte Stellen aus dem "Compendium Bergengruenianum" vorgelegt zu bekommen, eine Auswahl, die - wie im Untertitel bereits angedeutet - den Themen Politik, Geschichte und Kultur von 1940 bis 1963 gilt. Auch wenn man als Literaturwissenschaftlerin die spezifisch literar-ästhetischen Aufzeichnungen vermissen mag, so gibt doch der vorliegende Band einen tiefen und eindringlichen Einblick in das Denken, Handeln und Schreiben eines Mannes, der es verstanden hatte, den Verlockungen des Nationalsozialismus zu widerstehen, und der auch nach dessen Ende nicht mit Selbstgefälligkeit oder Rachegefühlen über all die Mitläufer und Mittäter triumphieren wollte. Zeichnen sich die noch während des Zweiten Weltkriegs in Solln bei München beziehungsweise nach der Vernichtung des dortigen Hauses in Achenkirch in Tirol niedergeschriebenen Reflexionen durch große Zurückhaltung vor allem in politischer Hinsicht aus, so markiert das Jahr 1945 einen deutlichen Bruch. "Seit der Wende des April zum Mai 1945 ist es nur noch ein Unglück, ein Deutscher zu sein, aber nicht mehr eine Schande" (52).

Nun, nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes, setzt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein, werden die persönlich erlittenen Schikanen ebenso aufgearbeitet wie die vielfältigen Erscheinungsformen der nationalsozialistischen Mentalität und Strategie präsentiert. Ohne jemals in Selbstmitleid oder Selbstheroisierung zu verfallen, gibt Bergengruen Auskunft über Autoren und Autorinnen, die - verlockt von den vom nationalsozialistischen Propaganda-Apparat vorgestellten Karrierechancen - sich in mehr oder weniger große Nähe zur braunen Ideologie und Politik begaben und dabei entweder ihr Gewissen (ich weiß, das klingt altmodisch) oder ihre Begabung aufgaben. Wie ein Durchgang durch die NS-Literatur lesen sich Bergengruens meist sehr differenzierte, auch um gelegentliche Würdigung nicht verlegene Analysen von Leben und Werk damals bekannter und hochgelobter, heute zumeist vergessener Autorinnen und Autoren: Rudolf G. Binding, Hans Friedrich Blunck, Richard Euringer, Dietrich Eckart, Adolf Bartels, Gustav Frenssen, Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Grimm, Hermann Claudius und Ina Seidel sind nur einige aus einer langen Liste, die sich durch Anbiederung und Unterwerfung zumindest "anpatzten" und zu denen Bergengruen auf Distanz ging oder Distanz hielt. Paradigmatisch für diese Einstellung mag sicher sein Verhalten Kolbenheyer gegenüber sein, der in Solln Bergengruens unmittelbarer Nachbar war, auf dessen Annäherungsversuche und Einladungen Bergengruen immer mit Ablehnung reagierte, dessen Mitleidsbekundung anlässlich der Zerstörung des Bergengruen'schen Hauses er nur nolens volens mit einem Handschlag quittierte und dem er doch nach 1945 im Zuge der Entnazifizierungsverfahren ein äußerst entlastendes Zeugnis ausstellte.

Eines kennzeichnet Bergengruens Aufzeichnungen von Anfang an: der Versuch historischer Objektivität. Bereits wenige Monate nach dem Untergang des nationalsozialistischen Terrorregimes bemüht sich Bergengruen, dieses als historisches Phänomen zu sehen und zu verstehen. Er gibt hier eine ausnehmend klare und differenzierte Beschreibung des Nationalsozialismus, den er - was angesichts seiner persönlichen Lage nur zu verständlich wäre - eben nicht dämonisiert, sondern nüchtern seziert und analysiert. Was Bergengruen schon 1945 niederschreibt, wird von der historischen Forschung erst Jahrzehnte später realisiert werden. So beginnt Bergengruen: "Der Nationalsozialismus ist nicht wie ein Blutregen vom Himmel gefallen und nicht wie eine wunderhafte Elementarkatastrophe gekommen, sondern er steht inmitten des Geflechts von Ursachen und Wirkungen, er hatte Gründe, Anstöße, Vorgeschichten. Gegenwärtig sieht man vor allem die Scheußlichkeit des von ihm Begangenen, das Elend, das er über die Erde gebracht hat. Mit der Zeit aber wird man ihn affektloser untersuchen und wird gewahr werden, daß zu diesem verwüstenden Strom sich die verschiedenartigsten Bäche vereinigt hatten; und keineswegs sind es nur trübe Sumpfgewässer gewesen [...]" (80).

Erst im Laufe der Nachkriegsjahre macht sich Enttäuschung breit - Enttäuschung über die nicht geglückte Zusammenführung exilierter und in Deutschland gebliebener Autorinnen und Autoren, die Rückkehr der alten, oft unverbesserlichen Nazis in Ämter und Würden, die Verfilzung gerade auch im literarischen Betrieb von ehemaligen Nazi-Befürwortern und Nazi-Gegnern: "Während des Dritten Reiches war alles einfacher. Man verkehrte mit niemandem, der auch nur im Verdacht des Nationalsozialismus stand. Jetzt ziehe ich es mitunter vor, mich gar nicht erst zu erkundigen, wie der und der sich in der Terrorzeit verhalten hat; Erfreuliches hört man selten" (204). Auch die gesellschaftlich-politischen Aussichten für Deutschland scheinen ihm trübe. Totalitarismus, Konformismus und Bolschewismus seien die eigentlichen Gefahren, ein Aufschwung zu neuer kultureller Hochblüte und zu demokratischer Freiheit nicht in Sicht. Ohne dass sich so etwas wie Rührseligkeit oder Nostalgie breit machte, ist sich Bergengruen dessen bewusst, außerhalb seiner Zeit zu leben. Die baltische Heimat ist verloren, die alte Welt ist untergegangen, den neuen politischen Kräften begegnet er mit Misstrauen - "Die Nonkonformisten sind wir" (235), wird er 1959 konstatieren.

Eingeleitet wird der ebenso informative wie letztlich doch auch berührende Band von zwei Beiträgen der Herausgeber Frank-Lothar Kroll und N. Luise Hackelsberger, in denen sie die Richtlinien ihrer Textauswahl erläutern und die Hintergründe der Situation Bergengruens im 'Dritten Reich' beleuchten. So wurde Bergengruen bereits 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und mit einem Publikationsverbot belegt, genoss aber als Auslandsdeutscher doch wieder einige Ausnahmeregelungen. So konnte er etliche Romane und Erzählungen auch noch nach Hitlers Machtergreifung publizieren und diverse Vortrags- und Lesungsreisen unternehmen.

Unter den dem "Compendium Bergengruenianum" angeschlossenen Dokumenten finden sich die politische Beurteilung Bergengruens, der Briefwechsel zwischen Bergengruen und Herbert Hupka über die nach wie vor nazifreundliche Kulturpolitik nach 1945, die Aufzeichnungen Bergengruens über Jochen Klepper und seine Tagebücher, die Korrespondenz über das Entnazifizierungsverfahren von Kolbenheyer und ein Beitrag Bergengruens zur geschichtlichen Problematik des preußisch-russischen Verhältnisses. Eine kurze Chronologie gibt Auskunft über Leben und Schreiben Bergengruens im 'Dritten Reich', eine ausführliche Literaturliste ist ebenso angefügt wie ein Personen- und ein Sachregister.

Ein großes Lob den Herausgebern für einen in der Tat ganz wesentlichen Beitrag zur Geschichte der "Inneren Emigration" in Deutschland und für ein menschlich bewegendes Zeugnis!

Alice Bolterauer