Marion Bornscheuer: Von der Bildbetrachtung zur Theorie der Malerei. Die Kunsttheorie des Sébastien Bourdon (1616-1671) (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 163), Hildesheim: Olms 2005, 641 S., 23 Farbtafeln, 43 s/w-Abb., ISBN 978-3-487-12890-0, EUR 78,00
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Erst seit kurzer Zeit ist das Œuvre Sébastien Bourdons wieder verstärkt in den Blick der kunsthistorischen Forschung gelangt. [1] Im Unterschied zu seinem Zeitgenossen Charles Le Brun und durch die Dominanz der "modernen" akademischen Theorie des 18. Jahrhunderts blieb eine entsprechende Würdigung des Künstlers als einer der frühen französischen Kunsttheoretiker bisher aus. Die umfangreiche Dissertation von Marion Bornscheuer widmet sich der Rekonstruktion der Kunsttheorie Bourdons ausgehend von seinen vier Akademie-Reden, die hier erstmalig vollständig nach den ältesten Quellen publiziert werden. Durch die Einbeziehung seines malerischen Werks und die intensive Auseinandersetzung mit dem akademischen Kontext entsteht ein umfassendes Bild von Bourdons künstlerisch-theoretischer Position als Maler und als "Professeur" der Pariser Académie.
An den Anfang der Arbeit ist eine quellenkritische Einordnung der Akademie-Reden gestellt. Da lediglich die vierte Rede im Originalmanuskript überliefert ist, war es notwendig, die verschiedenen Protokolle, Neuadaptionen und publizierten Versionen der ersten drei Reden auf ihre Authentizität zu untersuchen. Die übersichtlich gegliederte Textanalyse (Kap. II) ermöglicht einen unmittelbaren inhaltlichen Zugang zu den einzelnen Reden und legt deren Struktur und Begrifflichkeiten offen. Auf dieser Grundlage, die Vorträge als einen zusammenhängenden Korpus betrachtend, entfaltet Bornscheuer die Systematik von Bourdons Theoriegebäude (Kap. IV). Bourdons künstlerisches Œuvre dient als ergänzende historische Quelle und somit zugleich als Bestätigung seiner theoretischen Ansätze (Kap. V). Die Ausführungen zur Malpraxis des Künstlers, die durch zahlreiche Neuinterpretationen seiner Bilder bereichert wird, erlauben einen tiefen Einblick in dessen Werkverständnis. Im Vergleich mit dem malerischen Œuvre und den Akademie-Reden seiner Künstlerkollegen Le Brun und De Champaigne erscheint vor dem Hintergrund des streng hierarchisch strukturierten Akademiebetriebes das Motiv der "Aemulatio" sowie die konfessionelle Zugehörigkeit als grundlegend für die Herausbildung von Bourdons Kunsttheorie (Kap. VI).
In seinen ersten beiden Reden entwickelte Bourdon aus der Bildbetrachtung zu Poussins "Blindenheilung von Jericho" und Carraccis "Stephanusmartyrium" die sechs malerischen Grundbegriffe lumière, composition, trait-proportion, expression, couleurs und harmonie. Ausgehend von diesen theoretischen Hauptkriterien gelangt er in der dritten und vierten Rede zu der Ausbildung seiner universellen Theorie der Malerei. Diese nicht mehr an ein konkretes Werk gebundenen Abhandlungen zu seinen Malereikriterien Licht und Proportion stellen hierbei die ersten zwei Teile seiner geplanten sechsteiligen Systematik der Grundbegriffe dar, die er jedoch nicht vollenden konnte.
Während allen Reden dieses homogene "Gliederungsgerüst" immanent ist (495), führt die dritte Rede diese an die göttliche Schöpfung angelehnte Struktur in einer analogen Einteilung der sechs idealen Tageszeiten fort. Jede der Tageszeiten vermittelt nach Bourdon zugleich einen bestimmten Stimmungsgehalt ("caractere particulier") (96) und kann einem Sujet zugeordnet werden. Hier kommt die in der zweiten Rede formulierte ideale Theorie der Rezeptionsästhetik zum Tragen, die von der optischen Wahrnehmung über seine geistig-religiöse Wirkung hin zu einer moralischen Aussage drei Stufen der Erkenntnis durchläuft (161). Die "kompositorischen Funktion" des Lichts (73) und ihre Relation zur Farbe, die bereits in den ersten beiden Reden anklingt, wird in der "lumière"-Rede (3. Rede) religiös-symbolisch überhöht. Der enge Zusammenhang von Licht und Idee, der die Begriffe "invention", "imagination", "talent" und "esprit" (112) umfasst, macht den Umgang mit dem Licht und damit mit der Farbe zum eigentlichen Kriterium für die Begabung des Künstlers. Die Vorwegnahme des "modernen" Geniebegriffs bei Bourdon verdeutlicht gleichzeitig die Gegenüberstellung von Tageszeiten und Erkenntnisstufen in der Kunst der Malerei, die die Entwicklung des Künstlers von der Grundausbildung bis hin zum "ingeniösen Malerphilosophen" kennzeichnet (185). Dieses künstlerische Ziel kann jedoch nicht durch die "imitatio", sondern erst durch die "aemulatio" ereicht werden (236). Indem Bourdon die Geistigkeit und Spiritualität der Mittagszeit, in der die Sonne am Höchsten steht, hervorhebt, erscheint die Anspielung auf die königliche Sonnensymbolik Ludwigs XIV. evident. Zugleich kann Bornscheuer in der Rekonstruktion der Bildbezüge herausarbeiten, dass Bourdon mit der Mittagszeit auf sein "eigenes Ingenium der Schöpferkraft anspielt" (222). Mit dem Wechselverhältnis von Licht und Ingeniosität vollzieht Bourdon die Auflösung der akademischen Gattungshierarchie (196-205). Die neue lichtorientierte Bewertung der Gattungen preist die sechste Tageszeit mit der heroischen bzw. pastoralen Landschaftsmalerei als den Gipfel der Malerei. Nach Bornscheuer "antizipiert Bourdon in seiner "lumière"-Rede" im Hinblick auf die Landschaftsmalerei "bereits die 'moderne' Kunsttheorie eines Roger de Piles"(205).
Ein wichtiges Merkmal der Kunsttheorie Bourdons besteht in ihrer Ableitung aus seiner eigenen Malpraxis (239-322). Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, nicht auf direkte Vorbilder zurückgreifen zu können, andererseits entspricht dieses Vorgehen dem von ihm geforderten Aemulatio-Prinzip. Seine Gemälde dienen ihm als Vermittlungsebene des eigenen Theorieansatzes. In der Besprechung ausgewählter Werke Poussins oder Carraccis setzt er deren Auffassung die eigene bildnerische Umsetzung dieser Bildthemen entgegen. Bornscheuer erkennt in den erhaltenen Gemälden Bourdons die Stimmigkeit zu seinen Reden. Fraglich erscheint, ob aus dieser Überseinstimmung auch automatisch die Authentizität der Quellen, hier Guillets Protokoll der dritten Rede, geschlussfolgert werden kann (322). Zugleich erlaubt Bornscheuers nachhaltige Beschäftigung mit der Theorie und Praxis Bourdons neue Interpretationsansätze seiner Gemälde. "So ist zu überlegen, ob Bourdons vierteilige (Gemälde- bzw.) Kupferstichserie zum Neuen Testament nicht auch einen Jahreszeiten-Zyklus darstellt, der mit Poussins (seinerseits mit alttestamentlichen Sujets kombinierten) Vier Jahreszeiten rivalisierte"(297).
Das künstlerische Prinzip der Aemulatio spielte in der durch eine strenge Rangordnung geprägten Pariser Akademie eine große Rolle. Zum Verständnis der Reden Bourdons ist es nötig, dessen Bemühungen sich vor Augen zuführen, sich von seinen Konkurrenten, dem Akademiekanzler Le Brun und dem ihm in der Hierarchie nachfolgendem Champaigne durch eine eigene Kunsttheorie zu emanzipieren. Welchen großen Einfluss der religiöse Aspekt in Bourdons Werk hatte, zeigen insbesondere die Differenzen mit Champaigne (447-474), dessen "enggefasstes dogmatisches Bildverständnis"(475) mit Bourdons calvinistischer Auffassung kontrastierte. Da Bourdon seine kunsthistorische Synthese gerade an Poussin vollzieht und sich damit auch von dessen Vorbildhaftigkeit distanziert, kann er nach Bornscheuer kaum als dessen Adept gelten (418-420). In der "lumière"-Rede greift Bourdon mit der Relativierung der Gattungshierarchie und der Priortität von Licht und Farbe, die den malerisch-harmonischen 'effet' erzeugen, Roger de Piles 'moderner' Theorie vor (416-428). Er erweist sich damit als einer der wichtigsten Theoretiker am Ende des 17. Jahrhunderts.
Bornscheuers Grundlagenforschung ermöglicht erstmalig Bourdons Theoriebildung als eine Einheit in Wechselwirkung mit seiner Malpraxis zu verstehen. Die übersichtliche Gliederung und der klare, konsequente Argumentationsaufbau erlauben dem Leser, die Informationsfülle zu bewältigen und auf Einzelaspekte direkt zuzugreifen. Dies entschuldigt auch auftretende Wiederholungen in den Kapiteln II und IV sowie die Breite der Ausführungen, der zuweilen eine Straffung im Hinblick auf die Lesbarkeit gut getan hätte. Wünschenswert im Hinblick auf die Gattungshierarchie wäre eine genauere Definition und zeitgeschichtliche Einordnung der Landschaftsmalerei in Abgrenzung zur Historienmalerei gewesen. Die sorgfältige Edierung der Quellen in der Originaltranskription im Kontext eines chronologischen Überblicks aller Akademiereden von 1667 bis 1672 sowie die Vielzahl der Vergleichsabbildungen machen diese Studie zu einem wertvollen Instrument der künftigen Forschung. Bornscheuers vorgenommene Neubewertung Bourdons als Maler und Kunsttheoretiker sowie als theoretischer Wegbereiter de Piles lässt neue Ansätze im wissenschaftlichen Diskurs erwarten.
Anmerkung:
[1] Einen umfassenden Überblick zum Œuvre Bourdons gibt die Publikation: Sébastien Bourdon (1616-1671). Catalogue critique et chronologique de l'œuvre complet, Kat. Ausst. Musée Fabre / Montpellier, Galerie de l'Ancienne Douane / Strasbourg, éd par Jacques Thuillier, Paris 2000.
Daniela Roberts