Peter Claus Hartmann: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486-1806, Stuttgart: Reclam 2005, 178 S., ISBN 978-3-15-017045-8, EUR 5,00
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Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806 (= C.H. Beck Wissen; Bd. 2399), München: C.H.Beck 2006, 133 S., ISBN 978-3-406-53599-4, EUR 7,90
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Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2017
Den beiden kleinen Bändchen, in denen die mehr als 300jährige Geschichte des lange ungeliebten frühneuzeitlichen Reiches erzählt wird, dürfte ein großer Absatz gewiss sein. Sie erscheinen rechtzeitig zum Untergangsjubiläum 2006, beschäftigen sich in der einem Studierenden, der nun den Bachelor-Abschluss anstreben muss, gerade noch zumutbaren Ausführlichkeit mit einer politischen Konstellation der älteren deutschen Geschichte und bieten eine gefällige Darstellung auf der Höhe des neueren Forschungsstandes. Die kleine Form wird im Gegensatz zu monumentalen Handbüchern helfen, das Alte Reich im kulturellen Gedächtnis der Deutsch(sprachig)en stärker als bisher zu verankern. Beide Autoren tun sich jedoch erkennbar schwer, das Reich für die nationale Tradition zu vereinnahmen, und sind sich daran einig, dass es kein (National)Staat war. Dennoch lohnt ihres Erachtens die Erinnerung an eine Formation, die einerseits strukturelle Ähnlichkeiten mit der offenen europäischen Staatlichkeit und dem "Europa der Regionen" (Hartmann) hat und andererseits dekonstruiert werden soll, um Fremd- und Andersartiges erkennen zu können (Stollberg-Rilinger). Wo also liegt der Nutzen einer Beschäftigung mit dem Alten Reich, in der Traditionsstiftung für Deutschland und / oder Europa oder in der Delegitimation, in dem Erkennen einer nicht mehr selbstrefentiell verfügbaren Alterität?
Die andauernde Forschungskonjunktur des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, die im Übrigen auch durch die studentische Nachfrage entsprechender Lehrveranstaltungen gestützt wird, ruht auf dem festen Fundament der von Peter Moraw und Volker Press in den 1970er Jahren betriebenen Verbindung von Sozial- und Verfassungsgeschichte. Diese Vorgabe erweitern beide hier zu besprechenden Autoren um kulturalistische Ansätze, wobei Hartmann traditionelle Themen der (Hoch)Kulturgeschichte aufgreift, während Stollberg-Rilinger eher auf die neueren methodischen Zugänge rekurriert. Von der oft beschworenen Befürchtung (oder Hoffnung), dass durch einen solchen Zugriff der eigentliche Gegenstand in der weichen Unverbindlichkeit zum Verschwinden gebracht werde, kann keine Rede sein. Beide Darstellungen schreiben über weite Strecken eine informative und im besten Sinne traditionelle Verfassungs- und Politikgeschichte des Alten Reiches, seiner Institutionen und Verfahren, seiner Herausforderungen und Lösungswege. Diese inzwischen unstrittig gewordene Meistererzählung zwischen Luther und Napoleon, Reichsreform und Untergang, konfessioneller Spaltung und Aufklärung prägt zwar noch nicht das Geschichtsbild der Deutschen, wohl aber die universitären Curricula. Die Unterschiede zeigen sich im Detail. Hartmann schildert zunächst die "Verfassung", Stollberg-Rilinger einen "Körper aus Haupt und Gliedern". Beide Darstellungen würdigen die frühneuzeitlichen Institutionalisierungen, erklären kompetent ihre Bedeutung und Funktionen und entsprechen damit dem heutigen Wissensstand und den gängigen Interpretationsmustern.
Was also war das frühneuzeitliche Reich, wenn es kein Staat war? Stollberg-Rilinger führt einleitend aus, dass dem Reich alles fehlte, was einen modernen souveränen Nationalstaat angeblich auszeichnet. Stattdessen wird es als loser Verbund unterschiedlicher Glieder geschildert, die zum Kaiser in einem Treueverhältnis standen (7 f.). An anderer Stelle mutiert das Reich zum "Rechtsverband mit gemeinsamen höchsten Rechtsprechungsinstanzen und gemeinsamer Gesetzgebung; es war ein Friedensverband, dessen Glieder sich gegenseitig beizustehen hatten [...], es war ein Leistungsverband mit gemeinsamen Steuern und Diensten zu gemeinsam finanzierten und organisierten Aufgaben" (19). Zudem soll das Reich einerseits schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts "zu einem Ganzen, zu einer handlungsfähigen politischen Einheit" integriert (47), andererseits ein "Personenverband" (16 f., 116) gewesen sein. Die so postulierte "Fremdartigkeit" (9) unterscheidet sich damit wenig von der altbekannten frühmodernen Staatlichkeit. Völlig zu Recht wird auf die "Einheit stiftenden Reichsinstitutionen" von 1495 (13) hingewiesen, die nur die deutschen Reichsglieder banden.
Ist das frühneuzeitliche demnach ein deutsches Reich gewesen? Vor dieser Aussage schreckt Stollberg-Rilinger zurück. Sie glaubt, die Grenzen des Reiches nicht benennen zu können, und lässt die italienischen Vasallen "in diesem Sinne" (welchem?) zum Reich gehören (19). In ihrer erzählenden Darstellung ist davon allerdings wenig zu spüren. Die in der Innenseite des Einbandes gedruckte Karte verdeutlicht den unausgetragenen Kompromiss: Sie zeigt das mittelalterliche Lehensreich, wenn auch unter farblicher Hervorhebung seiner deutschen Teile. Der Dreißigjährige wird dementsprechend auch als "Teutscher Krieg" charakterisiert. Die Behauptung, der Westfälische Frieden habe "zur völligen Verteidigungsunfähigkeit des Reichsverbandes" geführt (87), widerspricht dem neueren Forschungsstand und dem Augenschein. Gegen die Türken und gegen Ludwig XIV. war das jedenfalls nicht der Fall, und die nächste größere Bewährungsprobe für das deutsche Reich hieß dann schon Napoleon!
Dagegen gehört der nützliche Hinweis Stollberg-Rilingers, dass das Zeremoniell anlässlich der Westfälischen Friedensverhandlungen oder der Reichstagssitzungen keinen "überflüssige[n] Eitelkeiten" entsprang (82, 108), zum Grundkonsens der neueren Forschung. Gerade zu der Verbindung von Kultur, Habitus, Empfindungen und Politik hätte man sich von dieser Autorin allerdings etwas mehr erwartet, zumal sie an anderer Stelle programmatisch behauptet hat: "zeremonielle Konflikte [...]sind genuine Verfassungskonflikte" [1]. Dies hätte hier ebenso ausgeführt werden können wie die These, dass an Stelle der nicht vorhandenen "kodifizierten Verfassung [...] die Ordnung des Ganzen in symbolischen Inszenierungen immer wieder erneuert" wurde (117). Was heißt das konkret? Gab es keine Verfassung, oder wurde sie von Zeremonien substituiert? Was ist mit den sehr wohl schriftlich vorliegenden Reichsfundamentalgesetzen oder den Reichsabschieden? Wie hat man sich die Inszenierungen vorzustellen, die über die feierliche Kommunikation der Inhalte hinausgingen? Zahlten die Untertanen Steuern, supplizierten an Kaiser und Reichstag oder klagten am Reichskammergericht, weil sie der feierlichen Inszenierung oder den Ordnungen und angedrohten Sanktionen folgten?
Auch Hartmann erzählt eine ganz ähnliche Geschichte eines deutschen Reiches, spricht aber (politisch korrekt?) von "einer Art Mitteleuropa der Regionen mit einer Bevölkerung verschiedener Ethnien und Sprachen" (13). Gewiss gab es im Reich deutscher Nation nicht nur deutschsprachige Bevölkerungsteile, doch die Anzahl der Sorben, Slowenen oder Bewohner mit romanischen Muttersprachen war vergleichsweise gering. Nach 1648 sieht Hartmann im Reich "eine lockende [!] Konföderation mit weitgehend respektierter Rechts- und Friedensordnung" (147) bzw. "einen lockeren Staatsverband, eine Art Europa der Regionen" (163). Er geht dabei von der alten Auffassung aus, dass jede Stärkung der Partikulargewalten den Kaiser schwächte (16). Doch der Kaiser war kein monarchischer Herrscher, und Machtpolitik muss nicht als Null-Summen-Spiel gedeutet werden. Das Reichsoberhaupt war seit 1495 auf die Zustimmung der Reichsstände angewiesen und verkörperte mit ihnen gemeinsam - so Hartmann - "die volle Souveränität" (58). Eine ausgehandelte politische Regelung wie der Augsburger Religionsfrieden hatte auf die Stellung des Kaisers keinen Einfluss, und selbst der Westfälische Frieden schrieb nur das Verfassungsgleichgewicht fest, das sich im 16. Jahrhundert auf den Reichstagen eingespielt hatte. Ob diese allerdings vor "ähnlichen Problemen" standen wie "die heutige EU" (75), weil die Stände nur die Beschlüsse ausführen wollten, denen sie zugestimmt hatten, sei dahingestellt. Der Kaiser verfügte sehr wohl über Mittel und Wege, opponierende Stände zu Leistungen zu zwingen. Hartmann bietet zusätzlich eine Reihe nützlicher Daten und Informationen zu den Gesellschafts-, Wirtschafts- und Konfessionsverhältnissen, zu den lehensrechtlichen "Mutungspflichten" der Reichsstände, die allerdings höchst selten rechtliche Konsequenzen besaßen, sowie zu den Bevölkerungszahlen im frühneuzeitlichen Deutschland. Das Kapitel über die Kultur des Reiches kompiliert auf knapp 20 Seiten bekannte Beobachtungen und Meinungen, die weder mit der Erfahrungen und Empfindungen der Reichsbewohner noch mit der politischen Kultur in Verbindung gebracht werden. [2]
Die beiden Bändchen repräsentieren im Großen und Ganzen den derzeitigen politik- und verfassungsgeschichtlichen Forschungsstand: Sie bieten das in vielen Punkten unentschiedene neue Bild von einem strukturell nichtangriffsfähigen Reich, das in Deutschland noch darum kämpft, vom ungeliebten Erbe in die nationale Tradition der Berliner Republik aufgenommen zu werden. Europaverträglich wäre dieser Schritt allemal, denn unsere auf ihre eigenen Traditionen stolzen Nachbarn sehen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation keineswegs ein Vorbild für Europa, sondern eine frühneuzeitlichen deutschen Staat, dem sie aus guten Gründen keinen Hegemonialanspruch zugestehen wollen.
Anmerkungen:
[1] Barbara Stollberg-Rilinger: Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte, in: Matthias Schnettger (Hg.): Imperium Romanum - irregulare corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Beiheft 57: Abteilung für Universalgeschichte), Mainz 2002, 233-246, Zitat 240.
[2] Vgl. dagegen in diesem Sinne auch für das Alte Reich richtungweisend: Tim C. W. Blanning: The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660-1789, Oxford 2002.
Georg Schmidt