Karsten Uhl: Das "verbrecherische Weib". Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945 (= Geschlecht - Kultur - Gesellschaft; Bd. 11), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, 270 S., ISBN 978-3-8258-6593-1, EUR 20,90
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Mit der überarbeiteten Fassung seiner Münchner Dissertation aus dem Jahre 2000 eröffnet Karsten Uhl einen neuen Blick auf den kriminologischen Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts. Er stützt sich dabei auf eine breite Quellenbasis: Abhandlungen, Handbücher und Zeitschriftenaufsätze von Gerichtsmedizinern, Strafrechtlern und den 'Kriminologen' des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Abgerundet wird dieser interdisziplinäre Textkorpus durch die Berücksichtigung von einigen Romanen, mit denen Uhl die Austauschbeziehungen zwischen Literatur und Kriminologie rekonstruiert.
Diesem Textkorpus nähert sich Uhl mit einem diskursanalytischen Interesse. Das bedeutet eine bewusste Abkehr von einer politischen Ideengeschichte der Kriminologie und eine Hinwendung zu Foucaults Diskursanalyse als theoretischem Leitmotiv. Den Ausgangspunkt seiner Analyse bildet die Frage nach den diskursiven Strategien, die den Autorinnen und Autoren zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfügbar waren, wenn sie über straffällige Frauen schrieben.
In seiner Darstellung folgt er den Konventionen einer Dissertation bzw. einer Monografie und präsentiert die Ergebnisse der diskursanalytischen Analyse als wissenschaftliche Erzählung. Das strukturalistische mapping der Aussagen, die zu einer bestimmten Zeit über weibliche Kriminalität gemacht werden konnten, wird dem Leser daher nicht als mehrdimensionale visuelle Repräsentation eines diskursiven Raums mit unterschiedlichen Optionen des Sprechens über weibliche Kriminalität, sondern als eine überzeugende Geschichte vermittelt. Seine Darstellung geht über die Vorstellung dieses Diskursraumes hinaus, indem sie die Argumentationsstrategien der Kriminologie gekonnt in Bezug zu politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen setzt.
Mit seiner Diskursanalyse problematisiert Uhl die Selbstverständlichkeit der Zuschreibung von Devianz und die 'Natürlichkeit' der Geschlechterdifferenz in den kriminologischen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Davon ausgehend setzt er die Logik dieser Konstruktionen in Bezug zu diskursiven, politischen und institutionellen Praktiken. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte, sondern auch zur Gegenwart der kriminologischen Debatten.
Am Beginn des Buches steht eine längere Einleitung, in der Uhl seine Methode und sein Textkorpus vorstellt und sein Projekt in der Geschlechter- und Kriminologiegeschichte positioniert. Die Einleitung ist das zweitlängste Kapitel und nimmt daher in der Arbeit einen privilegierten Stellenwert ein. Das ist gerechtfertigt, weil Uhl mit dieser Studie in analytischer Hinsicht Neuland betritt und sich deshalb in theoretischer wie historiografischer Hinsicht gezielt verorten muss.
Die ersten beiden thematischen Kapitel, d. h. die Kapitel II und III, verfolgen die zunehmende Individualisierung der Täterinnen und den Wandel des "Strafdenkens" am Beispiel der Debatten über Kindesmörderinnen, Brandstifterinnen und Frauen, die während ihrer Schwangerschaft straffällig wurden. In diesen Kapiteln kombiniert Uhl strukturalistische und historische Analysen. Die spezifische Logik des Schreibens über Kindesmörderinnen wird für die erste Jahrhunderthälfte rekonstruiert (43-55) und der neuen Logik gegenübergestellt, die den kriminologischen Diskurs zur Zeit der Jahrhundertwende bestimmte (55-61). Die Thematisierung der verhängnisvollen Einflüsse der Schwangerschaft verfolgt Uhl innerhalb eines einzelnen Abschnitts von den 1810er-Jahren bis zur Zeit der Jahrhundertwende (79-90). Damit kann er überzeugend und anschaulich nachweisen, dass einzelne Evidenzen im kriminologischen Diskurs (wie etwa die Schwangerschaft und die damit verbundenen 'Gelüste') zwar eine erstaunliche Kontinuität aufwiesen, innerhalb der jeweiligen diskursiven Praktiken jedoch ganz unterschiedlich gedeutet wurden.
In den Kapitel IV und V setzt sich der Autor mit dem kriminologischen Diskurs ab dem späten 19. Jahrhundert auseinander, der die Verbrecherinnen als Produkt von Anlage und Umwelt konzipierte. Die diskursanalytische Perspektive ermöglicht Uhl die Überwindung der Dichotomie von Anlage und Umwelt, die von früheren Arbeiten in den Vordergrund gerückt wird. An ihre Stelle setzt er eine sorgfältige Rekonstruktion der vielfältigen Optionen, die der neue Blick auf die Verbrecherinnen eröffnete.
Die Reflexion über 'Weiblichkeitsnormen und Kriminalität' in Kapitel V kann man in verschiedener Hinsicht als den Höhepunkt seiner Analyse bezeichnen. In diesem Kapitel bringt der Autor die Fäden seiner Argumentation zusammen, indem er nach der Funktion von 'Weiblichkeit' zur Erklärung von Straftaten fragt. Ausgangspunkt ist die Frage, wie die meist männlichen Autoren mit der Herausforderung von deutlich niedrigeren Kriminalitätsraten von Frauen umgingen. Waren Frauen die besseren Menschen? Uhl zeigt, dass die Kriminologen auf diese Herausforderung unterschiedlich reagierten. Frauen wurde dieser Befund negativ angelastet: Er wurde als Beleg für ihre Passivität und Furchtsamkeit gelesen. Nicht nur die geringeren Kriminalitätsraten, sondern auch die von Frauen verübten Straftaten wurden unter Bezug auf "die Weiblichkeit" erklärt. Kriminelle Frauen wiesen demnach entweder ein 'Zuviel' (Stichwort: Hysterie) oder ein 'Zuwenig' an Weiblichkeit auf (Stichwort: Vermännlichung).
Den Schluss des Buches bilden zwei Kapitel (VI und VII), in denen sich der Autor systematisch mit dem kriminologischen Diskurs, seinen epistemologischen Grundlagen und seinen interdisziplinären Verflechtungen auseinandersetzt. Im eigentlichen Schlusskapitel (VIII) beantwortet Uhl abschließend Fragen nach der Relevanz der geschlechtergeschichtlichen Methoden und nach der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität im kriminologischen Diskurs. Dabei kommt die Auseinandersetzung mit der Diskontinuität in der Debatte über "die Kriminelle" während des 19. Jahrhunderts zu kurz. Die von ihm verwendeten Abgrenzungen zu den Debatten der Frühen Neuzeit, die Unterscheidung zwischen Tat- und Täterstrafrecht und schließlich die Institutionalisierung von radikalen Optionen des kriminologischen Diskurses in der Zeit des Nationalsozialismus sind durchaus relevant. Sie ermöglichen jedoch keinen Blick auf die grundlegenden Veränderungen des späten 19. Jahrhunderts.
Der Autor leistet einen weiteren Beitrag zur Neubestimmung der Auseinandersetzung mit Kriminalität während des 19. Jahrhunderts: Nicht erst die Kriminologie der Jahrhundertwende vollzog den Paradigmenwechsel, indem sie sich auf den Täter und nicht auf die Tat konzentrierte. Diese Schwerpunktverlagerung lässt sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen, wie man nicht nur den Schriften Michel Foucaults entnehmen kann. Uhl ist einer der ersten Historiker, der sich an Foucault orientiert und diese Frage aus der Gender-Perspektive verfolgt. Dabei nimmt er jedoch nicht die gesamte Bandbreite von Aussagen in den Blick, in denen Frauen als Subjekte vorkommen. Er konzentriert sich vielmehr auf die straffälligen Frauen.
Diese Beschränkung hat den Nachteil, dass Uhl die strategische Funktion von Frauen für die Erklärung krimineller Karrieren bei Männern außer Acht läst. Aus Sicht der Kriminologie brachten Frauen als Prostituierte Männer vom rechten Weg ab, unterstützten als Partnerinnen ihre Männer bei der Planung und Durchführung von Straftaten und erzogen als Mütter ihre Kinder innerhalb der kriminellen Gegenwelt zum kriminellen Gewerbe. Die Konzentration auf die Diskussion über Straftäterinnen wie sie Uhl in diesem Buch vornimmt, hat dennoch einen großen Vorteil. Sie erlaubt dem Autor, die Zusammenhänge zwischen "Weiblichkeit" und Kriminalität in den verschiedenen diskursiven Formationen zu untersuchen. Überzeugend verfolgt er die Rolle, die dem Frau-Sein in seinen gesellschaftlichen, psychologischen und biologischen Konnotationen als Erklärung für die Verübung von Straftaten zugemessen wurde.
Karsten Uhl leistet mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Kriminologie und der Geschlechtergeschichte. Seine subtile und kreative Auseinandersetzung mit dem kriminologischen Diskurs zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnet faszinierende Einblicke in die Anstrengungen der Kriminologen, der Irritation zu begegnen, die mit weiblicher Kriminalität verbunden war. Das Buch beruht auf einer textanalytischen Kärrnerarbeit. Der Leser nimmt davon nichts wahr. Die Ergebnisse dieser Anstrengung sind anschaulich und leicht fasslich dargestellt. Die zahlreichen, gut kommentierten Zitate werfen direkte Schlaglichter auf den kriminologischen Diskurs und vermitteln einen Einblick in die analytische Werkstatt des Autors. Kurz zusammengefasst: ein lesenswertes Buch!
Peter Becker