Philippe de Carbonnières: Lesueur - Gouaches révolutionnaires. Collections du musée Carnavalet, Paris: Musées de la Ville de Paris 2005, 247 S., ISBN 978-2-87900-858-5, EUR 55,00
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Wer immer sich mit der Französischen Revolution beschäftigt, hat zweifellos die eine oder andere jener 'naiv' gezeichneten und fein kolorierten volksnahen Szenen der so genannten "Brüder Le Sueur" gesehen, die als Illustrationen revolutionshistorischer Monografien besondere Beliebtheit genießen. Niemand jedoch kannte bisher das ganze Corpus und niemand hat sich ernsthaft darum gekümmert, wer die vermeintlichen Autoren der so ansprechenden Gouachen waren, welche Funktion sie eigentlich hatten und worin ihr Quellenwert besteht. Dem vorliegenden Werk von Philippe de Carbonnières, Konservator am Pariser Musée Carnavalet, kommt das Verdienst zu, das alles - im Rahmen des Möglichen - mit Bravur zu klären.
Bei der Zuschreibung und Datierung des Ensembles muss de Carbonnières mangels unmittelbarer Zeugnisse geradezu detektivisch mit Indizien arbeiten, und zwar ausgehend von einer Pariser Immobilie der Familie Bidault, Vorbesitzerin jener Gouachen. Laut Grundbuch verfügte sie seit 1777 kontinuierlich über ein Eckhaus am Boulevard Saint-Denis und der Rue du Faubourg-Saint-Martin, in dessen unmittelbarer Nähe sich zeitgleich eine Malersippe lokalisieren lässt, besonders der Figuren- und Schmuckmaler Jean-Baptiste Lesueur (1749-1826) und sein Bruder Pierre-Antoine. Dass Jean-Baptiste der Hauptautor der überwiegend pro-revolutionären Gouachen war, ist um so wahrscheinlicher, als er sich 1794 als Kommissar des 5. Arrondissement politisch engagierte (Brief aus dem Nationalarchiv), 1797 als Wähler nachgewiesen ist und 1801 als ehemaliger "terroriste" angeklagt wurde. Damit ist die frühere Annahme, die Gouachen stammten von den bekannten neoklassizistischen Malern Pierre-Etienne und Jacques-Philippe, widerlegt: nicht nur aus Stilgründen, sondern auch, weil jede lokalisierbare Verbindung fehlt. Was ihre Entstehungszeit betrifft, dürften die Bilder sehr zeitnah zu den dargestellten Szenen gemalt worden sein; jedenfalls geben sie die rasch wechselnden Uniformen und Moden der Revolutionszeit mit einer Genauigkeit wieder, wie sie nur einem künstlerischen 'Zeitzeugen' möglich war. Somit ist das Gros der Bilder auf die Zeit von 1789 bis 1795 zu datieren, der kleinere Teil auf die folgenden Jahre bis 1808.
Kannte man von den ursprünglich 83 Gouachen bislang nur eine kleine Auswahl, so bildet de Carbonnières nun alle beschrifteten Kartons mit den aufgeklebten Bildern in Farbe ab, die sich inzwischen im Besitz des Musée Carnavalet befinden und in dessen Dauerausstellung teilweise gezeigt werden: insgesamt 64 Kartons bestehend aus einem Konvolut des Louvre als Dauerleihgabe (50) sowie Neuentdeckungen im eigenen Haus und rezenten Zukäufen aus Privatbesitz. Neunzehn Bilder befinden sich noch im Besitz verschiedener Mitglieder der Familie Bidault und bleiben einstweilen weiterhin unbekannt.
Gleichwohl erlaubt diese nunmehr zu drei Vierteln qualitätvoll präsentierte und akribisch dokumentierte 'Bilderchronik der Revolution' neue Rückschlüsse auf ihre Funktionen. Erschien es seit jeher rätselhaft, warum die Gouachen sämtlich als ausgeschnittene Mehrfiguren-Bilder vorlagen, so hat de Carbonnières aus Beobachtungen bei ihrer Restaurierung nun eine plausible Hypothese gewonnen: Sowohl zum Vorlesen bestimmte Erklärungen auf den Rückseiten der Gouachen, die von einer anderen Hand stammen und präziser sind als die Unterschriften auf den Vorderseiten der Kartons, als auch vertikale Abschürfungen an Seitenrändern einiger Blätter, wie sie bei Guckkastenbildern vorkommen, deuten darauf hin, dass die Gouachen ursprünglich in einer Art Miniaturtheater 'aufgeführt' wurden - eine These, die der zeichnerisch versierte Autor durch eigene Illustrationen veranschaulicht. Frühere widersprüchliche Vermutungen, die Bilder hätten entweder als privates Album gedient oder sie seien für den direkten Verkauf oder gar als Vorlagen für Druckgrafiken bestimmt gewesen, werden damit hinfällig. Im Zuge der bürgerlichen Wende der Revolution unter dem Directoire und vollends unter dem Empire änderte sich dann die Funktion der um ein paar pro-napoleonische Blätter ergänzten Gouachen: auf blau aquarellierten Karton montiert und mit handschriftlichen Legenden versehen, welche die liberalen Bild-Aussagen oft revolutionskritisch kommentierten, bildeten sie nun ein Art Kuriositätenkabinett.
Ebenso aufschlussreich wie diese quellenkritischen Beobachtungen sind die detaillierten inhaltlichen Erklärungen jedes einzelnen Bildes, mit denen Philippe de Carbonnières die Abbildungen aufschlüsselt. Tatsächlich handelt es sich um etwa 100 Bilder, denn fast in jedem zweiten Fall sind mehrere Szenen oder Figuren auf einen Karton geklebt. Ob der Autor nun auf den Bildern dargestellte Ereignisse wie die Schleifung der Bastille oder das nationale Schmuck-Opfer der Künstlerfrauen am 7. September 1789 erläutert, ob er bestimmte Damenmoden und Uniformen einzelner militärischer Grade oder die Darstellungen von Waffenproduktion und Kampftaktik erklärt, ob er Revolutionssymbole wie Pike, Freiheitsbaum und Phrygenmütze in den historischen Zusammenhang sowie die zeitgenössische Text- und Liedpublizistik einordnet, ob er Personen wie die Heldin MiIhier oder den Bierbrauer Santerre vorstellt - stets bietet er so präzise, kenntnisreiche und relevante Informationen, das sein Buch mithilfe des Registers 'nebenbei' auch als kulturhistorisches Nachschlagewerk dienen kann.
Überblickt man das Ensemble der Gouachen als Ganzes, kann man nur sehr bedingt von einer 'Bilderchronik der Revolution' sprechen: nicht nur, dass viele markante Ereignisse vom Ballhausschwur und Bastillesturm über den Tod Ludwigs XVI. und Marats bis zum 9. Thermidor fehlen; soweit wichtige Ereignisse der Revolution vorkommen, werden sie außerdem nicht mit den Zeichen historischer Bedeutsamkeit, sondern in Form ausschnitthafter Szenen dargestellt. Wie überhaupt der Hauptreiz und die geschichtliche Aussagekraft der Gouachen in der Lebendigkeit authentischer Alltagsszenen besteht, in denen sich das politische Klima der jeweiligen Zeit unmittelbar spiegelt. Dabei gilt Lesueurs besondere Aufmerksamkeit den Sansculotten und den Frauen, den Nationalgarden und dem Militär, der Mode und den Uniformen, den revolutionären Symbolen und Symbolhandlungen sowie den Sansculotten, während wirtschaftliche und religiöse Aspekte kaum zur Geltung kommen.
Alles in allem ist Philippe de Carbonnières hier bei aller 'Leichtigkeit' der Präsentation ein hochkonzentriertes, wohlformuliertes Werk gelungen, das nicht nur einem größeren geschichtlichen interessierten Publikum den Weg zu einer bisher mehr genannten als gekannten Bildquelle ebnet, sondern auch den Fachleuten eine Fülle neuer Einblicke bietet. Mit diesem 'Erstling' hat sich ein historisch und bildwissenschaftlich gleichermaßen versierter Kenner überzeugend zu Wort gemeldet, auf dessen weitere Veröffentlichungen man gespannt sein darf.
Schließlich ist auch die sachgerechte und ansprechende Ausstattung des Bandes zu rühmen - angefangen von den qualitätvollen Abbildungen über die Transkription der Bildunterschriften mit lichten Kapitälchen auf den breiten Seitenrändern bis hin zu Schrift- und Bildausschnitten, welche die Erklärungen dezent begleiten. Das Musée Carnavalet konnte die neue Schriftenreihe zur Erschließung seiner besonders wertvollen und empfindlichen Teilbestände - denn darum handelt es sich hier - nicht überzeugender eröffnen.
Rolf Reichardt