Josiah Ober: Athenian Legacies. Essays on the Politics of Going on Together, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005, xiii + 273 S., ISBN 978-0-691-12095-9, GBP 18,95
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Das Buch enthält eine Reihe von Referaten, die vom Verfasser aus unterschiedlichen Anlässen gehalten wurden und nicht nur Politikwissenschaftlern und Politikern, sondern auch einem breiteren Leserkreis historische Erfahrungen vermitteln sollen, die aus dem Studium der athenischen Demokratie zu gewinnen sind. Ober will die historische Bedeutung sowie auch Defizite und Schwächen der politischen Organisationsform der Athener in klassischer Zeit erläutern und darüber hinaus Unterschiede zwischen dem demokratischen System im antiken Athen und modernen Varianten der Demokratie aufzeigen. Er geht davon aus, dass es zum Verständnis der Funktionsfähigkeit der athenischen Demokratie nicht nur erforderlich ist, eine detaillierte Kenntnis der Interaktion ihrer politischen Institutionen zu gewinnen. Noch wichtiger ist nach seiner Auffassung, dass man die Identitätsfindung und das Selbstverständnis der damaligen Bürger versteht. Dementsprechend fordert er, dass in künftigen Untersuchungen zur athenischen Verfassung und Gesellschaft die Akzente stärker auf den von ihm als "politische Kultur" bezeichneten alltäglichen Verhaltensweisen der Bürger im öffentlichen Raum und im Rahmen der Institutionen liegen sollten (32). Hiermit sind nicht zuletzt Wertvorstellungen in einem politischen Kollektiv gemeint, in dem ein Konsens über die Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und persönlicher Sicherheit als Voraussetzung für die Stabilität der Demokratie besteht.
Ober weiß natürlich, dass die Geschichte kein Lehrbuch für praktische Politik sein kann, doch ist er davon überzeugt, dass die für einen antiken Stadtstaat typische "Kultur der politischen Partizipation" trotz der damaligen Ausgrenzung der Frauen und Sklaven aus dem politischen Leben aktuell dazu beitragen kann, die Realisierung und Sicherung essenzieller Menschenrechte zu garantieren. Er denkt hierbei nicht nur an die Werteordnungen innerhalb staatlicher Gemeinschaften, sondern auch an Ziele und Aufgaben gemeinnütziger Vereine und Gruppen.
In der athenischen Demokratie waren vor allem die Demen und der Rat der Fünfhundert Paradigmen für die politische Kommunikation in überschaubaren Gemeinschaften. Ober verweist in seiner Aufzählung wesentlicher Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems in Athen daher vor allem auf die Einbindung der Selbstverwaltungseinheiten der Demen in die Polisorganisation seit den Reformen des Kleisthenes sowie auf die Erfahrungen, die breite Kreise der athenischen Bürgerschaft durch ihr Engagement im Rat gewinnen konnten, der bekanntlich jährlich neu konstituiert wurde. In der Tat waren viele Teilnehmer an den Tagungen der Ekklesia bereits Mitglieder des Rates gewesen. Hierdurch waren sie mit Problemen der athenischen Innen- und Außenpolitik vertraut, wenn auch hierdurch kompetente Debattenredner in der Volksversammlung keineswegs entbehrlich wurden. Die von Ober genannten Voraussetzungen für funktionierende Formen politischer Willensbildung in kleinräumigen antiken Gemeinwesen lassen sich freilich nicht einfach auf moderne Staaten übertragen, in denen die Regierenden sich mit einem wachsenden Modernisierungsdruck infolge der sich rasant vollziehenden globalen Veränderungen und zugleich mit dem Widerstand eines Geflechtes von Interessenverbänden konfrontiert sehen und nicht zuletzt mit einer Art "Zufallsdemagogie" [1] rechnen müssen.
Als überzeugende Bestätigung für die kontinuierlich breite Zustimmung, die das demokratische System in der athenischen Bürgerschaft gefunden hat, wertet Ober den demokratischen Neuanfang nach dem Sturz der "Dreißig", deren Regime er mit Recht als "kollektive Tyrannis" bezeichnet. Das Scheitern der Putschisten 411 und 404/03 v. Chr. demonstriert, dass ihre ersten Erfolge nur durch die Ausnahmesituation einer militärischen Krise (411) und infolge der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) möglich waren und oligarchische Kreise im klassischen Athen auf die Dauer keine Chance hatten. Bereits Kleisthenes hatte die Weichen für die Entwicklung eines spezifischen Wechselspiels zwischen Führungskräften und der breiten Masse der Bürger gestellt, die in der zentralen Polisinstitution der Ekklesia die Möglichkeit hatten, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und nicht zuletzt in der Stabilisierung der Demokratie auch ihren eigenen Vorteil sahen.
Gleichsam wie eine dunkle Folie erscheint der Sokratesprozess im Rahmen der Bemühungen der Athener um eine Optimierung ihres demokratischen Systems nach dem Ende der "Dreißig" (157-170). Ober behandelt dieses Problem unter dem Aspekt, ob die Pflichten, die Sokrates als Bürger zu erfüllen suchte, seine Freiheit als Individuum einschränkten. Hiermit verbindet er die weitere Frage, inwieweit Sokrates als Athener handelte, wenn er die in Athen geltenden judikativen und politischen Verfahrensweisen als Bestandteil der Werteordnung anerkannte. Ober sucht zu zeigen, dass Sokrates überzeugt war, im demokratischen Athen frei zu sein und die Ziele seines Lebens erreichen zu können und zugleich die Pflichten eines den Gesetzen gehorsamen Bürgers zu erfüllen. Insofern habe Sokrates voll und ganz die Werte akzeptiert, die Perikles im thukydideischen Epitaphios verkündete. Andererseits waren aber die gegen Sokrates erhobenen Vorwürfe, er habe systemgefährdende Lehren propagiert, wohl kaum ein Zufall. Es war ja bekannt, dass neben Alkibiades auch ein Kritias, der Anführer der "Dreißig", einst zu seinem Schülerkreis gehört hatte.
In der Summe sind Obers Referate zur Rezeptionsgeschichte eine Bereicherung für den Diskurs über den Sinn historischer Erinnerung. Ober erläutert nicht nur das kulturelle Vermächtnis der Polis der Athener. Seine Ausführungen liefern zudem auch Impulse für aktuelle Diskussionen über Problemfelder gegenwärtiger Politik.
Anmerkung:
[1] Max Weber: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, in: ders.: Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 287 (Erstveröffentlichung 1917).
Karl-Wilhelm Welwei