Eberhard Gresch: Die Hugenotten. Geschichte, Glaube und Wirkung, 2. Aufl., Leipzig: Evangelisches Verlagshaus 2006, 248 S., ISBN 978-3-374-02260-1, EUR 19,80
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Obwohl ein seit Jahren anhaltender Boom migrationshistorischer Themen zu konstatieren ist, sind übergreifende Darstellungen zu den Hugenotten, die sich gleichermaßen der Entwicklung der protestantischen Minorität in Frankreich wie auch im Refuge widmen, eher selten zu finden. Dies vielleicht aus gutem Grund, erweist sich bei genauerer Betrachtung doch gerade die für eine solche Studie vorauszusetzende Kontinuität von der Reformation über die Bürgerkriege und Verfolgungsmaßnahmen, die Flucht und Neuansiedlung hinweg als ein in vielfacher Hinsicht von den Nachkommen der R é fugi é s in legitimierender und apologetischer Intention geprägtes und legendarisch überhöhtes Konstruktionsgeflecht, das es zuvor zu entwirren gilt.
Dergleichen theoretische Vorüberlegungen liegen indes nicht in der Absicht des Verfassers des zu besprechenden Buches. Sein Vorhaben ist bescheidener und anspruchsvoller zugleich, wendet er sich doch an einen "breiten historisch interessierten Leserkreis" (5). Dies bedingt den Aufbau des Werkes. Gresch beginnt in der Reformationszeit und stellt knapp und nahezu lexikalisch Leben und Wirken einiger Reformatoren (Luther, Melanchthon, Zwingli, Bucer, Bullinger) vor, um dann auf Johannes Calvin etwas ausführlicher einzugehen. Es folgt eine Skizze evangelisch-reformierten Christentums und seiner Bekenntnisschriften. Im zweiten Kapitel wird - sehr konventionell - die Geschichte des französischen Protestantismus von den ersten lutherischen Einflüssen über die Ausbreitung calvinistischer Lehren, die Bürgerkriege und die Zeit Ludwigs XIV. bis ins zwanzigste Jahrhundert dargestellt. Ein Kapitel widmet sich "Calvins Erbe", wo der Autor noch einmal wesentliche Aspekte reformierter Lehren und ihrer Ethik vorstellt, um schließlich unter der Überschrift "Der verfälschte Calvin" gegen einige der zentralen Vorwürfe, die dem Calvinismus von Seiten anderer Konfessionen gemacht wurden, Stellung zu beziehen. Drei Kapitel beschäftigen sich sodann mit dem Refuge in den deutschen Territorialstaaten und "in aller Welt". Am Ende folgt eine knappe Geschichte der Waldenser, die im Zuge der Religionspolitik Ludwigs XIV. und des Herzogs von Savoyen ebenfalls ihre Heimat verlassen mussten und sich meist den Hugenotten im Refuge anschlossen. Ein umfangreicher Anhang, bestehend aus einem "Begriffs-Lexikon", einem "hugenottische[n] Reiseführer" und einem auf das Thema abgestimmten französisch-deutschen Glossar, soll dem mit der Thematik nicht vertrauten Leser bei der Erschließung des Stoffs helfen.
Das Werk wirkt - trotz längerer narrativer Passagen - durch bisweilen lexikalisch knappe Absätze zu sehr wie ein Kompendium. So erschöpfen sich etwa die Abschnitte zum Refuge in knappen Skizzen von Gemeindegeschichten, die jedoch das bereits vorliegende hugenottische Ortslexikon nicht ersetzen können. [1] Der offenkundige Versuch, weitgehende Vollständigkeit bei der Zahl der behandelten Kirchengemeinden zu erreichen, wirkt sich hier negativ auf die Lesbarkeit der Darstellung aus. Zudem treten allgemeine Entwicklungen und Strukturen gegenüber der Einzelinformation leider sehr in den Hintergrund.
Obwohl Gresch sein Buch "sowohl an religionskundige als auch an kirchenferne Leser" richtet, wird doch bei der Lektüre schnell deutlich, dass der Autor cum ira et studio aus einer dezidiert reformierten Perspektive schreibt. Dies zeigt sich etwa an der heroisierenden Darstellungsweise der Hugenotten (5, 33, 49), während auf der anderen Seite mehrfach sehr einseitig vom "Niedergang" der Kirche des Spätmittelalters und den Missständen in derselben die Rede ist (z. B. 13). Fehlende Differenzierung lässt sich auch feststellen bei dem hier und da anklingenden abweisenden Verhalten der einheimischen Bevölkerung in den Ländern des Refuge, das hier moralisierend und pauschal auf das Motiv des Neides reduziert wird.
Greschs Buch enthält zahlreiche kleinere Fehler und Ungenauigkeiten. So wird hinsichtlich der Frühzeit der Reformation in Frankreich ein zu starker Akzent auf die Verfolgung gelegt, während der schwankende Kurs Franz' I. und die aus der engen Verflechtung von politischen und religiösen Zielen resultierende Ambivalenz seiner Politik verschwiegen werden. Widersprüchlich ist die Aussage, in Hessen-Kassel habe die bäuerliche Kolonisation dominiert, während andererseits - zurecht - festgestellt wird, knapp die Hälfte der Hugenotten habe sich in Kassel angesiedelt (110 f.). Missverständlich ist es, von der Gründung von Dörfern und Städten durch die Hugenotten zu reden (mehrfach 111 ff.), denn es handelte sich stets um landesherrliche Gründungen und nie um solche der Ré fugié s. Stark verkürzt ist auch die Darstellung der Glorious Revolution von 1688/89 in England, die ausschließlich von den Motiven Wilhelms III. her gedeutet wird. Es ist am Rande darauf hinzuweisen, dass die Bill of Rights nicht mit der "Toleranzakte" (Toleration Act, 1689) (157) gleichzusetzen ist und dass Wilhelm von Oranien auch in der englischen Geschichte als Wilhelm III. gezählt wird (156).
Schwerer wiegt indes, dass es dem Autor nicht gelingt, sich von seinem Gegenstand weit genug zu distanzieren, um seine Quellen kritisch zu hinterfragen. Das Buch bleibt somit ganz der Innenperspektive der französisch-reformierten Kirche verhaftet. Die sozioökonomischen Verhältnisse, die den Umgang mit der protestantischen Minderheit in Frankreich ebenso beeinflussten wie die Migrationsoptionen des Einzelnen, werden kaum erörtert. Dagegen werden die Weberschen Thesen zur calvinistischen Arbeitsethik erneut herangezogen, um den wirtschaftlichen Erfolg der Ré fugié s in den Aufnahmeländern zu rühmen. Es ist daher auch kein Wunder, dass Gresch teleologisch eine Kontinuitätslinie vom Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts zu modernen Demokratien konstruiert (18, 41). Darüber hinaus werden zur Beurteilung etwa des ethischen Verhaltens der Hugenotten im Wesentlichen normative Quellen herangezogen, ohne die Problematik derselben zu reflektieren. Auffällig ist auch der selektive Umgang mit den Literaturangaben am Ende der Kapitel. So fehlt im Abschnitt zum hessen-kasselschen Refuge ausgerechnet das kritische und viele Legenden hinterfragende Werk von Franz-Anton Kadell. [2]
Insgesamt wird die bereits früh von den Hugenotten selbst konstruierte und insbesondere in der borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ausgebaute und tradierte "Geschichtsmythologie" [3] auch in dem Band von Gresch weitergeschrieben. Die Chance, etwa im Kapitel "Umgang mit dem hugenottischen Erbe" (77 f.) die hugenottische Tradition kritisch zu reflektieren, wird ungenutzt gelassen. Dies ist insbesondere deshalb ärgerlich, weil gerade ein Buch, das sich bewusst an einen breiteren Leserkreis wendet, die Möglichkeit geboten hätte, Ergebnisse und Neuinterpretationen der Forschung der letzten zwei Jahrzehnte einem Publikum zu vermitteln, das die wissenschaftliche Fachliteratur eher selten rezipiert. So bietet das Buch zwar - trotz einiger Fehler und Ungenauigkeiten - eine Fülle von Detailinformationen, dem aktuellen Forschungsstand wird es hingegen nicht gerecht.
Anmerkungen:
[1] Johannes E. Bischoff: Lexikon deutscher Hugenotten-Orte (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins e.V.; Bd. 22), Bad Karlshafen 1994.
[2] Franz-Anton Kadell: Die Hugenotten in Hessen-Kassel (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; Bd. 40), Darmstadt / Marburg 1980.
[3] Etienne François: Die Traditions - und Legendenbildung des deutschen Refuge, in: Heinz Duchhardt (Hg.): Der Exodus der Hugenotten (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Bd. 24), Köln / Wien 1985, 177-193.
Ulrich Niggemann