Dariusz Brodka: Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes (= Studien und Texte zur Byzantinistik; Bd. 5), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 255 S., ISBN 978-3-631-52528-9, EUR 49,00
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Scott McGill / Cristiana Sogno / Edward Watts (eds.): From the Tetrarchs to the Theodosians. Later Roman History and Culture, 284-450 CE, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Markus Sehlmeyer: Geschichtsbilder für Pagane und Christen. Res Romanae in den spätantiken Breviarien, Berlin: De Gruyter 2009
Mit einer vergleichenden Untersuchung über Prokop von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylakt Simokatta setzt Dariusz Brodka die Reihe von Studien fort, die in jüngster Zeit der letzten Generation der spätantiken griechischen Historiker gewidmet worden sind. Unter "Geschichtsphilosophie" versteht Brodka dabei (11) "ein Nachdenken über die Geschichte, über ihren Sinn, ihre Struktur und Mechanismen", "eine deutende Betrachtung der historischen Vorgänge und Erscheinungen" (also statt "Geschichtsphilosophie" vielleicht besser "Geschichtsdenken"). Konkret geht es dabei vor allem um Fragen wie: In welcher Weise greift ein personal gedachter, christlicher Gott - Brodka votiert zu Recht gegen die immer wieder geäußerten Zweifel am christlichen Bekenntnis eines Prokop oder Agathias - strafend oder fördernd in das historische Geschehen ein? Ist der Lauf der Geschichte für die Historiker durch göttliche Providenz determiniert? Kennen sie andere Wirkmächte wie beispielsweise die Tyche, und welchen Gestaltungsraum billigen sie der freien Willensentscheidung des Menschen zu? Wenn Letzteres zutrifft, welches sind dann die Faktoren des historischen Prozesses, und welche Rolle spielt der Einzelne darin?
Für Prokop ist das Wirken Gottes in der Geschichte unzweifelhaft und wird insbesondere dann evident, wenn rationale Erklärungen versagen: Brodka verweist für diese Auffassung beispielsweise auf Prokops Ursachenanalyse der Pest von 542, wo mehrere rationale Erklärungsversuche explizit bewertet und verworfen werden. Daraus resultiert für Prokop jedoch weder eine grundsätzliche Ablehnung jeglicher rationalen Geschichtsdeutung noch eine politische Theologie mit dem Stereotyp der göttlichen Strafe für religiöse oder sittliche Versündigung: An der Schilderung der Eroberung Antiochiens durch Chosroes beispielsweise kann Brodka zeigen, dass Prokop rationale Momente (hier das Versäumnis der Verteidiger, den strategisch wichtigen Orabasios-Felsen zu besetzen) nicht verschweigt, wohl aber betont, dass es dem menschlichen Erkenntnisvermögen verschlossen sei zu ergründen, warum Gott die Verteidiger diese Maßnahme nicht bedenken ließ. Geschichte sei für Prokop damit, so Brodkas Fazit, grundsätzlich rational deutbar, doch sei der Mensch nicht immer in der Lage, den Plan der göttlichen Providenz im letzten Grund zu durchschauen.
Angesichts der unstrittigen Rolle der göttlichen Providenz stellt sich die Frage, welchen Einfluss der Mensch in Prokops Werk auf die historische Entwicklung hat. Brodka zeigt dabei u. a. am Beispiel der Schlacht von Decimum, einer Passage zum Abschluss des Vandalenkrieges, dass Prokop die freie Willensentscheidung des Menschen als Faktor des historischen Geschehens durchaus akzeptiert, allerdings mit der Einschränkung, dass es nicht in der Hand des Menschen liege, ob diese Entscheidung zum Erfolg führt. Außerdem kennt Prokop Situationen, in denen die Logik des einmal angestoßenen Prozesses eine deterministische Zwangsläufigkeit entwickelt, die dem Menschen seine Wahlfreiheit nimmt und ihn nur noch auf das Geschehen reagieren lässt: Als Prototyp eines solchen Prozesses nennt Brodka u. a. den bei Prokop mit innerer Anteilnahme geschilderten Untergang der Goten unter Totila.
Trotz solcher Einschränkungen zeigen die von Brodka diskutierten Textpassagen, dass für Prokop grundsätzlich kein Zweifel am Einfluss des Menschen auf den Geschichtsverlauf besteht; einen längeren Abschnitt der Untersuchung widmet Brodka daher auch der Frage, welchen Einfluss Prokop psychologischen Prädispositionen seiner Akteure einräumt. Ein weiterer Faktor spielt für Prokop trotz seiner klassizistischen Neigungen dagegen gar keine Rolle: die Tyche. Brodka kann nachweisen, dass die Tyche bei Prokop keine autonome Wirkmacht der Geschichte darstellt, sondern lediglich ein aus der klassischen Historiografie tradierter Topos ist, der als (nicht zuletzt auch Verlegenheits-)Formel zur Deutung historischer Ereignisse benutzt wird, die für den Menschen unbegreiflich, weil irrational und auch nicht auf einen erkennbaren göttlichen Willen zu beziehen sind.
Im Unterschied zu Prokop stellt Agathias zu Beginn seines Werkes explizit fest, dass er als einzige Triebkraft der Geschichte den Menschen und seine Willensfreiheit akzeptiert, nicht jedoch die Tyche oder andere übernatürliche Wirkmächte. Es ist daher nur folgerichtig, dass Agathias sich gegen theologische Geschichtsdeutungen verwahrt (obwohl er ihren Nutzen für die Hebung der Alltagsmoral lobt): Am Beispiel der Berichte über die Erdbebenkatastrophen zeigt Brodka, dass Agathias sich ausdrücklich gegen die Deutung kontingenter Erfahrungen als göttliche Strafen für eine sündenbeladene Menschheit oder einzelne Individuen wendet, sondern die Erdbeben vielmehr einer natürlichen Gesetzmäßigkeit zuschreibt, deren Urgrund, nicht jedoch konkreter Urheber Gott sei.
Das Beispiel einiger Passagen, in denen Agathias die Ursachen militärischer Niederlagen reflektiert, zeigt jedoch, dass diese Konzeption nicht konsequent durchgehalten wird: Agathias schwankt zwischen rationalen und moralisch-theologischen Deutungen; einmal gibt mangelnde Feldherrnkunst oder Disziplin den Ausschlag, einmal ist die Niederlage eine Strafe Gottes für frevelhaftes Plündern von Kirchen oder die Hybris eines Einzelnen. Diese Inkonsistenz lässt sich mit der in der Literatur vielfach gescholtenen konzeptionellen Unschärfe des Agathias erklären, Brodka jedoch versucht, den Autor zu seinem Recht kommen zu lassen: Prinzipiell sehe Agathias die menschliche Natur als autonome Triebkraft der Geschichte und sie allein auch als Gegenstand historischer Reflexion, doch wolle der Autor zeigen, dass der Mensch immer auch mit dem Eingreifen Gottes rechnen müsse.
Trotz dieser Einschränkungen bleibt das Wirken des Individuums für Agathias der unbestritten dominante Faktor im historischen Geschehen. Dies geht freilich damit einher, dass Agathias' Geschichtsdenken ganz in einfachen personalen Kategorien verharrt und nur in wenigen Einzelfällen tiefergehende strukturelle Deutungsmuster bemüht: So kann Brodka zeigen, dass Agathias sich beispielsweise bei der Darstellung des Hunneneinfalls nicht für die strukturellen Rahmenbedingungen der römischen Schwäche interessiert, sondern die Krise ausschließlich auf das Greisenalter Justinians zurückführt. Trotz dieser "personalen Geschichtsdeutung" bleibt Agathias' Interesse am Individuum im Übrigen aber schematisch: Die psychologische Darstellung beschränkt sich, wie Brodka zeigen kann, auf die Anwendung rhetorischer Topoi und gewinnt selten individuelle Züge.
Bei Theophylakt schließlich ist das direkte strafende, Schuld sühnende oder helfende Eingreifen Gottes eine kaum mehr problematisierte Konstante der Geschichte. Entsprechend reduziert ist bei Theophylakt die Rolle des Menschen: Sein Wirkungskreis ist durch den von der Providenz gesetzten Rahmen limitiert, selbst große Gestalten wie beispielsweise Chosroes sind nicht aus sich heraus in der Lage, das beständige Auf und Ab der Weltmächte Rom und Persien nachhaltig zu stabilisieren. Nach Brodka ist die menschliche Willensfreiheit bei Theophylakt daher darauf beschränkt, die sittlich richtige Entscheidung im vorgegebenen Geschichtsverlauf zu treffen. Dabei bleibt aber auch hier die Figurenzeichnung flach, topisch, ohne Individualität; die Akteure sind bloße Typen, die der Demonstration ethischer Werte dienen.
Gut zwei Drittel der Gesamtuntersuchung Brodkas entfallen auf Prokop, vom Rest der größere Teil auf Agathias. Diese Gewichtung entspricht Brodkas Einschätzung des reflektorischen Niveaus der drei Historiker; er ist damit einem traditionellen Niedergangsszenario verpflichtet, das auch nicht weiter problematisiert wird. Zwar fällt bei der Behandlung des Theophylakt die Bemerkung, seine unbekümmerte Akzeptanz des Eingreifens Gottes in die Geschichte sei der veränderten "Mentalität" und dem Glaubens- und Bildungshorizont eines nunmehr weniger klassisch als vielmehr christlich geprägten Publikums geschuldet (197). Gleichwohl wäre es dem Verständnis der von Prokop über Agathias bis zu Theophylakt unbestreitbaren konzeptionellen Veränderungen förderlich gewesen, hätte Brodka ihren sozial- und literaturhistorischen Kontext klarer herausgearbeitet. Trotz dieses Kritikpunkts bleibt es dabei, dass Brodkas Analysen eine solide Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit dem Geschichtsdenken der letzten griechischen Historiker bilden werden.
Sebastian Schmidt-Hofner