Heinz Schott / Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren - Irrwege - Behandlungsformen, München: C.H.Beck 2006, 688 S., ISBN 978-3-406-53555-0, EUR 39,90
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Von den beiden Standardwerken für die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie verzichtet das eine (Berger) [1] ganz auf ein eigenes Kapitel zur Historie des Faches. Das andere (Möller) [2] beginnt mit einem psychiatriehistorischen Kapitel aus der Feder von Paul Hoff. Darin wird auf 21 Seiten ein kondensierter (aber dennoch informativer) Überblick über die historischen Wurzeln des Faches gegeben. Die moderne Psychiatrie vernachlässigt also ihre historischen Grundlagen. Auf der anderen Seite sind die gängigen historischen Darstellungen der Psychiatrie nicht auf dem aktuellen klinischen Stand. Die letzte diachrone deutsche Psychiatriegeschichte von Ackerknecht erschien in der ersten Auflage bereits 1958 (3. Auflage 1985). Schott und Tölle bemängeln daran den positivistisch verengten Wissenschaftsbegriff (10). Sie kritisieren die einseitige Perspektive Ackerknechts, der das naturwissenschaftliche Paradigma der Medizin seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unreflektiert zum Bewertungsmaßstab historischer Epochen nimmt. Aus dieser theoretischen Einengung resultiere die Gefahr, das Mittelalter und die "romantische" Naturphilosophie als "unwissenschaftlich" abzuqualifizieren. Auch die von Edward Shorter vorgelegte "Geschichte der Psychiatrie" (amerikanisch 1997, deutsch 1999) wird von Schott und Tölle scharf kritisiert: "Es ist frappierend, wie ein Historiker ideologisch für das gegenwärtig vorherrschende Wissenschaftsverständnis der Biomedizin Partei ergreift, ohne es im Geringsten zu problematisieren" (11).
Schott und Tölle hingegen haben eine wesentlich weiter gefasste hermeneutische Zielsetzung: Die historische Reflexion soll gerade ein kritisches Hinterfragen des heute dominierenden - und vielen Psychiatern als selbstverständlich geltenden - neurobiologischen Paradigmas ermöglichen. Die Autoren widmen sich daher besonders der medizinischen Anthropologie und setzen sich kritisch mit dem in verschiedenen psychiatriehistorischen Epochen jeweils bestimmenden Menschenbild auseinander. Dieser Ansatz bewahrt vor einseitigen Verengungen und ist mit einer positivistischen "Fortschrittsgeschichte" nicht vereinbar. Die vorliegende diachrone Geschichte der Psychiatrie vermittelt die nötige historische Tiefenschärfe, um der heutigen Gefahr des (molekular-)biologischen Reduktionismus angemessen zu begegnen und sich mit den aktuellen Diskussionen und Kontroversen des Faches kritisch auseinanderzusetzen. Das Buch leistet einen Beitrag gegen die von den Autoren kritisierte "Geschichtsvergessenheit und Philosophieferne der heutigen Biomedizin" (497). Dabei profitiert es aus einer geglückten interdisziplinären Symbiose: Heinz Schott leitet das Medzinhistorische Institut in Bonn. Rainer Tölle leitete bis 1998 die Psychiatrische Universitätsklinik in Münster. Er ist der Verfasser eines psychiatrischen Standard-Lehrbuchs, das inzwischen in der 14. Auflage vorliegt und sich besonders durch die ausgewogene Darstellung der Pluridimensionalität des Faches auszeichnet.
Der erste Teil widmet sich den historischen Voraussetzungen (19-115). Dabei wird der Bogen gespannt von der Dämonologie bis hin zur Degenerationslehre, zum Sozialdarwinismus und zur Eugenik. Hervorzuheben ist die differenzierte Würdigung von Wilhelm Griesinger (1817-1868), der wesentlich zur empirischen und biologischen Fundierung der Psychiatrie beigetragen hat, ohne jedoch den reduktionistischen Materialismus zu vertreten, der ihm nicht selten in unzulässiger Vereinfachung zugeschrieben wird. Als "Sozialpsychiater" vertrat Griesinger die gemeindenahe Versorgung. Der ideengeschichtliche Teil schließt mit aktuellen Bezügen: Im Kapitel "Sozialdarwinismus und Euthanasie heute" wird postuliert, die "sozialdarwinistische Doktrin" sei in den "neokapitalistischen" westlichen Ländern mit globalisierten Märkten "allenthalben bemerkbar, wenn nicht bestimmend" (113).
Der zweite Teil "Moderne Begründungen, Entwicklungen und Irrwege" (116-230) beginnt mit dem wesentlichen Repräsentanten der modernen Psychiatrie: Emil Kraepelins (1856-1926) Beiträge werden gewürdigt, insbesondere die klinische Forschungsmethode unter Berücksichtigung des longitudinalen Krankheitsverlauf, seine Verdienste um die biologisch-psychiatrische Forschung und sein dichotomes nosologisches System nach dem Konzept der von ihm postulierten "natürlichen Krankheitseinheiten" (121). Sigmund Freud und der Psychoanalyse ist ein eigenes Kapitel gewidmet (124-134). Leider nur sehr kursorisch wird die Psychotherapie im Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg abgehandelt. Auf Bleuler, der den Begriff "Schizophrenie" prägte, und seinen Mitarbeiter Carl Gustav Jung wird eingegangen. Sehr aufschlussreich ist das Kapitel über die Tübinger Schule (Robert Gaupp, Ernst Kretschmer), die den pluridimensionalen Ansatz prägte, die prämorbide Persönlichkeit berücksichtigte und Wert legte auf die biografische Entwicklung und die introspektive Psychologie. Die psychopathologischen Standardwerke von Karl Jaspers und Kurt Schneider werden gewürdigt. Auf die Bedeutung der Phänomenologie (Husserl) und der Daseinsanalyse (Binswanger) für die philosophisch-anthropologische Fundierung der modernen Psychiatrie wird eingegangen. Großen Raum nehmen die Kapitel "Psychisch Kranke im Nationalsozialismus" (166-180), "Psychiater im Nationalsozialismus" (180-188), "Juden und Psychiatrie" (188-195) und "Missbrauch der Psychiatrie" in totalitären Systemen (195-200) ein. Kapitel zur Psychosomatik, zur Sozialpsychiatrie, zur Neurobiologie und zur Antipsychiatrie zeigen die thematische Breite. Abgerundet wird der zweite Teil durch die lesenswerte synoptische Gegenüberstellung von Bonhoeffer und Gaupp. Daran wird exemplarisch der fundamentale Unterschied zwischen unidimensional-neurobiologischer (Bonhoeffer) und pluridimensional-integrativer (Gaupp) Ausrichtung veranschaulicht. Gaupp wird jedoch nicht glorifiziert, seine befürwortende Haltung gegenüber der Zwangssterilisation und der "Euthanasie" im Nationalsozialismus wird später kritisch dargestellt (182-184).
Ein umfangreiches Kapitel widmet sich der Krankenversorgung (231-326). Meilensteine sind in diesem Kontext die "Befreiung der Geisteskranken von den Ketten" durch Chiarugi und Pinel sowie Conollys "non restraint system" (244-250), die Entstehung der deutschen Anstaltspsychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Heil- und Pflegeanstalten) unter dem Einfluss von Roller (259-262) und die Psychiatrie-Reform (Psychiatrie-Enquête, 1971) mit ihren sozialpsychiatrischen Konsequenzen.
Im Kapitel "Krankheiten" werden nach einem allgemeinen Teil zur Geschichte der psychiatrischen Nosologie (Griesingers Einheitspsychose, Kraepelins Dichotomisierung zwischen dementia praecox und manisch-depressiven Erkrankungen, die Differenzierung zwischen endogen, exogen und psychogen nach dem triadischen System und schließlich die modernen deskriptiven Klassifikationssysteme nach operationalisierbaren Diagnosekriterien) einzelne Krankheitsbilder unter psychiatriehistorischen Aspekten dargestellt.
Das Kapitel "Behandlung" (419-495) widmet sich den einzelnen Therapiemethoden, wobei insbesondere Psychopharmakotherapie (480-495), Psychotherapie (454-473) und Ergotherapie (435-446) hervorzuheben sind.
Das Schlusskapitel "Der kranke Mensch und die Psychiatrie" (496-511) problematisiert die Tabuisierung und Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Kritik wird geübt an der heute üblichen rigiden Orientierung an operationalisierbaren Diagnosekriterien und Klassifikationssystemen (500). Abschließend zeigen die Autoren potenzielle Gefahren der heutigen "molekulargenetische[n] Biologisierung des Menschen" auf, die "möglicherweise dem überwunden geglaubten Sozialdarwinismus (im Gewande des Neoliberalismus) neuen Auftrieb geben und wiederum zu inhumanen Einstellungen gegenüber psychisch Kranken und geistig Behinderten führen" könne (508). "Wenn heute nach den genetischen Bedingungen von psychischen Störungen gefahndet wird [...], so zeichnet sich die Gefahr einer neuen Eugenik auf molekularmedizinischer Grundlage ab" (509). Als problematisch sehen Schott und Tölle die heutige "Biologisierung" der psychiatrischen Therapie an, die "neben der Pharmakotherapie andere Verfahren als zweitrangig" betrachtet (505). Einem personen- und ressourcenorientierten Vorgehen wird der Vorzug gegenüber einem pathozentrisch-symptomorientierten Ansatz eingeräumt. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Psychiatrie noch vor einigen Jahrzehnten ihren Bezug zu den Geisteswissenschaften und insbesondere zu Philosophie und Anthropologie betont hat. Sie bedauern, dass sich die Psychiatrie der Gegenwart einseitig an die Theoriebildung der Neurowissenschaften bzw. der Hirnforschung anlehne - unter weitgehender Ausklammerung der medizinischen Anthropologie (508). Die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln des Faches und die philosophisch-anthropologische Dimension könnte als Korrektiv den von den Autoren skizzierten Gefahren eines biologischen Reduktionismus begegnen.
Leider enthält die erste Auflage nicht wenige sachliche Detailfehler, deren Häufigkeit an die Toleranzgrenze heranreicht. Das Buch ist vom Verlag offensichtlich nicht lektoriert worden. Der zu erwartenden zweiten Auflage täte ein sorgfältiges Fachlektorat gut.
Insgesamt kann man den Autoren zu dieser gelungenen diachronen Synopsis nur gratulieren. Die Stärke des Buches liegt in der ausgewogenen Würdigung der unterschiedlichen theoretischen Konzepte und der Herausarbeitung der philosophisch-anthropologischen Grundannahmen in den jeweiligen psychiatriehistorischen Epochen. Dem Anspruch, den reichen Erfahrungsschatz eines integrativ arbeitenden klinischen Psychiaters zusammenzuführen mit der Expertise eines arrivierten Medizinhistorikers, werden die Autoren auf gut lesbare Weise gerecht.
Anmerkungen:
[1] Mathias Berger (Hg.): Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie, 2. Aufl., München 2004.
[2] Hans-Jürgen Möller / Gerd Laux / Hans-Peter Kapfhammer (Hg.): Psychiatrie und Psychotherapie, 2. Aufl., Berlin 2003.
Jürgen Brunner