Rezension über:

Holger Diedrich / Horst Gründer / Gisela Graichen (Hgg.): Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, 2. Auflage, Berlin: Ullstein Verlag 2005, 497 S., ISBN 978-3-550-07637-4, EUR 22,00
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Rezension von:
Horst Gies
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Horst Gies: Rezension von: Holger Diedrich / Horst Gründer / Gisela Graichen (Hgg.): Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, 2. Auflage, Berlin: Ullstein Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/10649.html


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Holger Diedrich / Horst Gründer / Gisela Graichen (Hgg.): Deutsche Kolonien

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Nicht einmal 35 Jahre hatte Deutschlands Traum vom "Platz an der Sonne" eine realhistorische Existenz, dann war die Epoche des deutschen Groß- und Weltmachtstrebens im Zeitalter des Imperialismus zu Ende. Zwischen 1884 und 1919 verbanden sich die kolonialen Bestrebungen des preußisch-deutschen Kaiserreiches außerdem mit mancherlei Traumata, die nicht nur auf das Konto von idealistischen Träumern, forschen Abenteurern, rassistisch denkenden Schurken und menschenverachtenden Eroberern gingen, sondern systembedingt waren und deshalb bei allen anderen Kolonialmächten ebenfalls vorzufinden sind.

Diesem in Wissenschaft und noch mehr öffentlichem Geschichtsbewusstsein lange unterbelichteten Thema wurde im Jahre 2005 eine dreiteilige Fernsehserie des ZDF gewidmet, deren hier vorliegender Begleitband mittlerweile die vierte Auflage erreicht hat. Einer erfolgreichen TV-Journalistin und einem ausgewiesenen Kenner der deutschen Kolonialgeschichte ist es gelungen, eine populär aufgemachte, mit vielen Fotografien und Karten angereicherte Gesamtdarstellung vorzulegen, die gleichwohl wissenschaftlich fundiert und gut lesbar daherkommt. Literaturhinweise und ein Personenregister runden das hervorragende Werk ab.

Die Autoren gehen weit zurück in die Geschichte der Seefahrer und Entdecker, der katholischen und evangelischen Missionare sowie der Konquistadore und Kaufleute in spanischen, portugiesischen oder niederländischen Diensten. Schon im 15. bis 17. Jahrhundert erwiesen sich alle diese Aktivitäten, denen meist die Suche nach Gold und Reichtümern zu Grunde lagen, als unrentabel und verlustreich. Was heute kaum für möglich gehalten wird, war doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tatsache: Flottenbau und Kolonien gehörten zu den politischen Forderungen der revolutionären Demokraten und bürgerlichen Liberalen. Aber auch deren Versuche, z. B. die deutsche Massenauswanderung schützend zu begleiten bzw. zu kanalisieren, scheiterten kläglich.

Bismarck sträubte sich zunächst erfolgreich gegen koloniale Besitzergreifungen (etwa nach Frankreichs militärischer Niederlage 1871), konnte aber bald dem öffentlichen Druck und privaten Initiativen nicht mehr standhalten: 1882 wurde der Deutsche Kolonialverein gegründet, ab 1884 entstanden die ersten deutschen Kolonien in Westafrika (Togo, Kamerun) und Südwestafrika (heute: Namibia) meist als Privatinitiativen (u. a. Adolf Lüderitz), die aber bald staatlichen Schutzes bedurften bzw. ihn einforderten. 1888/1889 gründete der von Hans-Ulrich Wehler als "krimineller Psychopath" gekennzeichnete Carl Peters Deutsch-Ostafrika. Bis zur Jahrhundertwende kamen Gebiete in Ostasien (Kiautschou in China) und der Südsee (u. a. auf Neuguinea und Samoa) dazu, sodass schließlich die kolonialen Besitzungen des Deutschen Reiches sechsmal so groß waren wie das "Mutterland". Seitdem Friedrich Fabri mit seiner Broschüre "Bedarf Deutschland der Kolonien?" 1879 in die Öffentlichkeit gegangen war, hatte die kolonialpropagandistische Betriebsamkeit ständig zugenommen. 1888 wurde mit der Deutschen Kolonialgesellschaft ein Dachverband aller entsprechenden Initiativen und Bewegungen gegründet. Sie argumentierten jetzt nicht mehr nur mit missionarischer Christianisierung und zivilisatorischer Überlegenheit, sondern auch mit handelspolitischer Expansion und rassistischem Siedlungsimperialismus. Engagiert bei dieser Sache waren Finanzmagnaten und Aristokraten, aber auch Menschen aus dem Groß-, Bildungs- und Kleinbürgertum. Nur die Sozialdemokraten und ihre Klientel verweigerten sich konsequent der Kolonialeuphorie.

Alles das wird in diesem Buch nüchtern und ohne ideologische Brille analysiert und sachlich, aber auch kritisch dargestellt. Dabei gehen die Verfasser heiklen Fragen nicht aus dem Weg. War die brutale Niederschlagung der Aufstände in Deutsch-Südwest- (1904, Herero) und Deutsch-Ostafrika (1905/1907, Maji-Maji) "Völkermord"? Nein, sagen die Autoren und legen plausible Gründe für diese Position vor, die angesichts von Entschädigungsforderungen von Nachgeborenen der Überlebenden auch aktuelle Bedeutung hat. Denn Genozid im Sinne physischer Vernichtung z. B. der Herero war nicht das Ziel der militärischen Maßnahmen, sondern die Ausschaltung der organisierten Kampffähigkeit der Stammeskrieger. Und als die Situation unter dem neuen Gouverneur Lothar von Trotha eskalierte, wurde dessen "Vernichtungsbefehl" vom Kaiser noch im selben Jahr 1904 aufgehoben, nachdem Reichskanzler von Bülow ihn als unchristlich und schädlich für das deutsche Ansehen in der zivilisierten Welt bezeichnet hatte. Trotha wurde abgelöst und die deutsche Kolonialpolitik einer gründlichen Revision unterzogen.

Ähnlich argumentativ bewegen sich die Autoren im Spannungsfeld zwischen (Südsee)-Paradies einerseits und Kannibalismus bzw. unerträglichem Klima, Krankheiten und Entbehrungen andererseits, zwischen pax colonialis (vor dem Hintergrund endloser Stammesfehden) und Ausbeutung menschlicher und materieller Ressourcen (Sklavenhandel, Gewürze). Auch der Kolonialrevisionismus in der Weimarer Republik und vor allem im "Dritten Reich" wird ausführlich behandelt - immerhin existierte das Kolonialpolitische Amt der NSDAP bis 1943!

Die Bilanz der deutschen Kolonialpolitik sieht ernüchternd aus: Die Deutsche Kolonialgesellschaft hatte 1914 mit nur 40.000 Mitgliedern ihren Höchststand. 1913 erreichte der deutsche Kolonialex- und -import nicht einmal ein Prozent des Außenhandelsvolumens des Deutschen Reiches. Es wurde also viel (Propaganda)-Wind bei wenig Substanz gemacht, ja die Autoren scheuen sich nicht, von einem nationalen Verlustgeschäft zu sprechen.

Horst Gies