Siarhej J. Novikaŭ (Hg.): Belarus' u peryjad Vjalikaj Ajčynnaj vajny: pohljad u svjatle novych krynic, Minsk: o.V. 2005
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Alexander Neumann: "Arzttum ist immer Kämpfertum". Die Heeressanitätsinspektion und das Amt "Chef des Wehrmachtsanitätswesens" im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf: Droste 2005
Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921-1939), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2004
Klaus-Peter Friedrich (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 4: Polen September 1939 - Juli 1941, München: Oldenbourg 2011
Der 60. Jahrestag des Kriegsendes hat auch in Belarus für eine Flut von Neuerscheinungen zum Zweiten Weltkrieg gesorgt. Während die meisten dieser Bücher offiziellen oder halboffiziellen Charakter haben und in sowjetischer Manier den heldenhaften Kampf des weißrussischen Volkes gegen die "deutsch-faschistischen Eroberer" preisen und wissenschaftlich weitgehend wertlos sind [1], ist das vorliegende Werk von gänzlich anderer Qualität. Rein formal handelt es sich um die Doktorarbeiten vier weißrussischer Nachwuchshistoriker, die hier in gekürzter Form in einem Buch herausgegeben werden, und - entgegen dem weißrussischen Titel - auf russisch verfasst sind. Inhaltlich stehen sie in keinem engen Zusammenhang, sieht man davon ab, dass sie alle Themen des Zweiten Weltkrieges in Weißrussland behandeln. Halina Bolsun untersucht die Propaganda der deutschen Besatzer und der sowjetischen Partisanen im Vergleich, Jaŭhen Hrėben' beschäftigt sich mit der Anwerbung und dem Einsatz weißrussischer Zwangsarbeiter vor Ort und im Deutschen Reich, Juryj Zveraŭ widmet sich den aus Einheimischen gebildeten militärischen Formationen, die aufseiten der Wehrmacht kämpften, und Ihar' Servačynski bietet einen Überblick über die verschiedenen Arten der "Kollaboration" Einheimischer mit dem deutschen Okkupationsregime. Keines dieser Themen ist wirklich neu oder auch nur in der deutschen Historiografie unbekannt. Auch können weder Fragestellung noch Methode der Beiträge größere Originalität für sich in Anspruch nehmen, und dennoch lohnt die Lektüre. Die Verfasser der Beiträge haben intensiv die Bestände der Archive in Belarus durchforstet und dabei in erster Linie die Dokumente der Partisanen sowie der untersten Besatzungsbehörden ausgewertet, die fast ausschließlich in den Händen von Einheimischen waren. Dadurch können sie die bisherigen Darstellungen zur deutschen Okkupation in Weißrussland, die im Wesentlichen von westlichen Forschern stammen und den Blick auf die oberen Instanzen des Besatzungsapparates lenken [2], um die Perspektive "von unten" ergänzen. Am besten ist dies im Beitrag von Hrėben' gelungen, der seine Dissertation neben dem Nationalarchiv in Minsk auf die Archive aller sechs oblasti stützt. Genauer als andere Darstellungen vor ihm kann Hrėben' so schildern, wie die Verpflichtung Einheimischer zu den verschiedenen Zwangsdiensten für die Besatzer erfolgte, welche Möglichkeiten es gab, sich diesen Verpflichtungen zu entziehen und welche Spielräume insbesondere die einheimischen Dorfältesten und Gemeindebürgermeister hatten. Viele nutzten ihre Möglichkeiten auch zur Begleichung persönlicher Konflikte oder zur Umsetzung nationaler Programme: einige polnische Bürgermeister ließen bevorzugt Weißrussen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportieren, einige weißrussische Amtsinhaber griffen umgekehrt bevorzugt auf Polen zurück. Interessant ist auch die Untersuchung der unterschiedlichen deutschen Strategien, dringend benötigte Facharbeiter in ausreichender Zahl für kriegswichtige Betriebe vor Ort zu rekrutieren. Hrėben' kann dabei zeigen, dass die Ausbildung und Weiterqualifikation von Einheimischen durch die Besatzungsmacht hierbei eine größere Rolle spielte als bisher angenommen.
Ebenfalls sehr überzeugend fällt der Beitrag Servačynskis aus, der die verschiedenen Konzepte der einheimischen Zusammenarbeit mit den Besatzern auf den unterschiedlichen Ebenen differenziert analysiert und miteinander vergleicht. Dabei zeigt er die unterschiedlichen Motive für diese Zusammenarbeit ebenso auf wie das unterschiedliche Verhalten in deutschen Diensten. Längst nicht all diejenigen, die auf der Lohnliste der Deutschen standen, verschrieben sich diesen mit Haut und Haaren, viele nutzten ihre Positionen sogar, um von der Verfolgung bedrohten Mitbürgern oder auch dem sowjetischen Untergrund zu helfen.
Die beiden anderen Beiträge können dieses hohe Niveau leider nicht halten. Insbesondere die Darstellung Zveraŭs über die so genannten "Ostformationen" der Wehrmacht ist nicht frei von sowjetischen Stereotypen. Störend fallen auch die stark moralisierenden Werturteile auf, die sich insbesondere um die Frage drehen, ob die Angehörigen der jeweiligen Einheiten "Patrioten" oder "Verräter" waren (139). Angesichts der schwierigen Vorkriegssituation des untersuchten Territoriums, dessen Westteil bis 1939 zu Polen gehörte und dessen Ostteil den stalinistischen Terror mit aller Brutalität miterleben musste, ist eine solche Fragestellung nicht nur undifferenziert, sondern verstellt zudem den Blick auf wichtigere Analysekategorien wie Motivation und wechselnde Loyalitäten. Dennoch verschweigen auch er und Bolsun kritische Aspekte wie beispielsweise negative Auswirkungen der Partisanenbewegung nicht, die in der offiziellen belarussischen Historiografie weiterhin keine Erwähnung finden.
Bedauerlich ist das beinahe vollständige Ignorieren der westlichen Forschung, die im Wesentlichen mangelnden Sprachkenntnissen geschuldet ist und die einige ärgerliche Fehleinschätzungen zur Folge hat. Auch hätte allen Beiträgen eine intensivere Beschäftigung mit der Politik der übergeordneten deutschen Stellen auf Grundlage der deutschsprachigen Dokumente gut getan, die aus dem gleichen Grund unterblieben sein dürfte. Damit setzen die Autoren das jahrzehntelange Nebeneinander westlicher und sowjetischer Weltkriegsforschung fort, die gegenseitig kaum Notiz voneinander genommen haben. Die Verdienste und Defizite des vorliegenden Bandes zeigen in gleicher Weise, wie wichtig und lohnend es wäre, diese Haltung aufzugeben. Dem Herausgeber, dem Minsker Historiker Sjarhej Novikaŭ, ist dafür zu danken, die viel versprechenden Ergebnisse belarussischer Nachwuchswissenschaftler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.
Anmerkungen:
[1] Siehe z. B. A. A. Kovalenja u. a.: Belarus' v gody Velikoj Otečestvennoj vojny 1941-1945, Minsk 2005.
[2] Siehe z. B. Alexander Dallin: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945. Eine Studie über Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958; Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 2000. In Ansätzen werden die unteren Ebenen der Besatzungsverwaltung untersucht bei Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944 (= Schriften des Bundesarchivs 53), Düsseldorf 1998.
Alexander Brakel