Thomas Wetzstein: Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht; Bd. 28), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, VIII + 632 S., ISBN 978-3-412-15003-7, EUR 59,90
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Wie verliefen im Spätmittelalter eigentlich Kanonisationen? Oder salopp und terminologisch unpräzise ausgedrückt - darauf verweist der Verfasser zu Recht (201 f.) - wie wurde man im europäischen Spätmittelalter heilig gesprochen? Dieser Frage widmet sich die Studie von Thomas Wetzstein, die aus einer Heidelberger Dissertation erwachsen ist.
Im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von Untersuchungen, die sich in jüngerer Zeit mit Kanonisationen befasst haben, richtet sich der Blick des Verfassers dezidiert auf das Wie. Nicht die inhaltlichen Umstände, mögliche Interessen (von welcher Seite auch immer), die eine Kanonisation motivierten oder sich hinter einer solchen verbargen, sondern die Frage nach den prozessualen Mustern und Normen steht im Zentrum der Studie. Diese Normen, so die zentrale These, stellten keinen eigenen Verfahrenstypus dar, sondern entwickelten sich analog zu den allgemeinen Prozessformen kirchlicher Rechtssprechung. Die Untersuchung von Kanonisationsakten bedeutete im Wortsinn nichts weniger als im Titel angekündigt wird, nämlich "Heilige vor Gericht" zu stellen. Damit leistet der Verfasser mehr, als es zunächst scheint.
In der bisherigen Forschung - verwiesen sei hier auf die wegweisenden Arbeiten von André Vauchez und Emanuel Le Roy Ladurie [1] - wurden Kanonisationsakten primär aus frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtlicher Warte untersucht. Obwohl bereits früh auf die methodische Problematik solcher Studien hingewiesen wurde, blieb eine quellenkritische Untersuchung zu Kanonisationsakten ein anhaltendes Forschungsdesiderat. Die vom Verfasser nun eingenommene Perspektive vermag diese Lücke zu schließen, indem sie Kanonisationsakten im Kontext der kirchlichen Rechtsprechung des Mittelalters analysiert. Wetzstein unterzieht die Kanonisationsakten einer grundlegenden Quellenkritik und richtet das Augenmerk primär auf die prozessrechtlichen Normen von Kanonisationsverfahren. Damit leistet der Verfasser einen wesentlichen Beitrag zu einer "Diplomatik der Akten des mittelalterlichen gelehrten Prozesses" (188). Ein wesentlicher Gewinn liegt darin, dass sich das in Kanonisationsakten zusammengefasste, heterogene Quellenmaterial zueinander in Beziehung setzen und angemessen beurteilen lässt. Mit dieser soliden quellenkritischen Reflexion legt der Verfasser zugleich ein Fundament für die weiter führende Beschäftigung mit Kanonisationsakten.
Die Studie gliedert sich in drei Teile. In einem ersten Abschnitt bietet der Verfasser die Grundlage seiner These, indem er die Entwicklung und Herausbildung der kirchlichen Rechtssprechung im Spätmittelalter skizziert. Dabei vermag er aufzuzeigen, dass die Durchsetzung von Verfahrensnormen kirchlicher Rechtsprechung mit der Verbreitung der Institution einhergeht und somit weit flächendeckender erfolgte, als dies für jede weltliche Rechtssprechung der Fall war. Die Aspekte der Untersuchung folgen dabei meist dem primären Ziel der Untersuchung, nämlich einer Erarbeitung von Grundlagen der Quellenkritik mittelalterlicher Prozessformen. So reichen die Hinweise von der Einführung des Protokollzwangs seit dem vierten Laterankonzil (1215) über Angaben der Beschreibmaterialien (Pergament) bis hin zu einzelnen Schritten in der Abfassung von Prozessakten.
Im zweiten Teil, der dem Kanonisationsverfahren in der Theorie gewidmet ist, also den normativen Texten, wie Kanonisationsverfahren zu erfolgen haben, gelingt dem Autor eine überzeugende Darstellung seiner These. So erstaunt es denn auch nicht, dass sich in der Entwicklung der Kanonisationsverfahren allgemeine Entwicklungen der hoch- und spätmittelalterlichen Kirche und der Durchsetzung der kirchenrechtlichen Prozessformen spiegeln. Es bildet sich etwa im päpstlichen Kanonisationsreservat (Aufnahme in den Liber Extra von 1234) "ein Strukturwandel, der sich in der katholischen Kirche seit dem 12. Jahrhundert als Aufgabe synodaler zugunsten monarchischer Leitungsstrukturen vollzog" (219). Oder: Auch für die Bedeutung der Kanonisationsverfahren erweist sich der Pontifikat Innozenz' III. als Wegmarke; hinter die Verfahrenstandards, die unter dem "Juristenpapst" erreicht wurden, ging die weitere Entwicklung kaum mehr zurück.
Mit der Einführung allgemeiner prozessualer Mittel orientierten sich Kanonisationsverfahren vermehrt an anderen teildelegierten Akten päpstlicher Rechtssprechung, während Vorbilder bischöflicher Kultapprobation an Bedeutung verloren. Auch wenn dadurch der Eindruck eines tatsächlichen Kanonisationsreservats des Papsttums entsteht, verweist der Verfasser (selbst-)kritisch darauf, dass dieser Eindruck zum Teil auch der Überlieferungssituation geschuldet ist; eine Gutzahl bestehender und neu entstehender Heiligenkulte war und blieb von den Maßnahmen der Kurie nicht betroffen. Zudem ist auch kein eigentlich bewusster, politischer Einsatz der Verfahren seitens der Päpste zu erkennen. Kanonisationsverfahren, so der Verfasser zur Vorsicht mahnend, lassen sich also nur sehr beschränkt als ein Instrument bewusster Machtpolitik der Päpste verstehen.
Im dritten Teil wendet sich Wetzstein der Praxis der Kanonisationen zu. Hier vermag er mit zahlreichen Beispielen zu illustrieren, was er im zweiten Teil anhand der normativen Texte dargestellt hat. Das ist erhellend, provoziert aber auch zu einer ganzen Reihe spannender Fragen, auf die der Autor nicht eingeht, ja die er bewusst ausklammert. Denn wie so häufig sind Theorie (Teil II) und Praxis (Teil III) nicht deckungsgleich. Welche Bedeutung kommt einer von der Norm abweichenden Praxis zu? Wo gab es (für wen?) Handlungsspielraum für solche Abweichungen? Wer verhilft einer Kanonisation trotz Abweichungen zum Durchbruch, und mit welchen Verfahren / Mitteln? All dies sind Fragen, welche die gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung von Kanonisationen betreffen, die in dieser Studien erklärtermaßen unbeantwortet bleiben müssen; hier muss die künftige Forschung ansetzen. Dass sie überhaupt gestellt und aufgrund einer soliden quellenkritischen Basis der Kanonisationsprozesse mit Gewinn beantwortet werden können, ist nicht zuletzt das Verdienst der Arbeit von Thomas Wetzstein.
Anmerkung:
[1] A. Vauchez: Canonisation et politique au XIVe siècle, Paris 1978; E. Le Roy Ladurie, Montaillou, Paris 1975.
Lucas Burkart