Sudhir Hazareesingh: The Legend of Napoleon, London: Granta Books 2005, XI + 336 S., ISBN 978-1-86207-789-8, GBP 10,99
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Sudhir Hazareesingh gilt als einer der besten Kenner der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Befasste er sich in seiner Parallelpublikation "The Saint Napoleon" [1] mit der Feier öffentlicher Festivitäten im 19. Jahrhundert, speziell dem 15. August als dem verordneten Geburtsfest Napoleon, so behandelt er in diesem Buch die Begründung und Fortentwicklung des Napoleonkultes bis zur Gründung der Dritten Republik. Als Ausgangsbasis für seine Untersuchung dienen ihm im Wesentlichen Polizeiberichte in den Archives Nationales sowie deren Gegenüberlieferung aus drei französischen Departements (Isère, Rhône, Yonne) zwischen 1815 und 1870.
Zu Beginn schildert Hazareesingh in essayistischer Form den "Adlerflug" Napoleons, weil er grundlegend für die Entstehung des Napoleonkultes und auch der späteren politischen Gemeinsamkeit von Liberalen und Bonapartisten gewesen sei. Napoleon hatte, bevor er im März 1815 erneut französischen Boden betrat, erkannt, dass die Franzosen eine Wiederanknüpfung an die Ideale der Revolution wünschten und wusste, dass er 'Freiheit' als Instrument gegen die als Despoten empfundenen Bourbonen einsetzen konnte (8). Ob er eine innere Wandlung vollzogen hatte oder ob dies einzig und allein aus taktischen Gründen geschah, lässt sich im nachhinein freilich nicht mit Gewissheit feststellen. Napoleon jedenfalls ordnete einen von Benjamin Constant erstellten Zusatz zur wiederhergestellten Konsulatsverfassung an mit den Änderungen, die bis 1814 vorgenommen worden waren. Damit wurden die Minister der neuen Repräsentantenkammer verantwortlich. Den Bürgern sprach dieser Verfassungszusatz volles Eigentumsrecht und in Artikel 64 sogar die Abschaffung der Zensur zu. Das Großbürgertum, die Beamtenschaft und die Notablen nahmen ihm, den sie bereits als regierenden Kaiser erlebt hatten, die politische Freiheitsrhetorik jedoch nicht ab: Wenn die Krise Frankreichs überwunden wäre, würde Napoleon dann nicht die Meinungsfreiheit einschränken? Hingegen fand Napoleon dort Unterstützung, wo er sie nicht gesucht hatte, nämlich bei Arbeitern, Bauern und im Kleinbürgertum, weil sie in ihm einen Vorkämpfer sozialer "égalité" sahen, ganz im Gegensatz zu dem durch das Ausland eingesetzten Restaurationsregime der Bourbonen. Trotz, oder besser: gerade wegen seiner erneuten Verbannung wurde Napoleon daher Gegenstand quasi-religiöser Verehrung.
Vor diesem Hintergrund arbeitet Hazareesingh die entscheidende Rolle der Gerüchte für die repressive politische Atmosphäre im Frankreich der Bourbonen nach 1815 heraus. Selbst nach Napoleons Tod kam immer wieder der Ruf auf, seine Wiederkunft stehe bald bevor. Jener Mann, der die Revolution einst per Federstrich beendet hatte, wurde von allen politischen Richtungen als Vehikel ihrer jeweiligen Ideen in Anspruch genommen. Somit zeigt sich, dass die anti-napoleonische Propaganda der Bourbonen von ihren Gegnern umgekehrt und gegen sie selbst gerichtet wurde (168-169). Der napoleonische Mythos nutzte das Bild des liberalen Napoleon von 1815 - und eben gerade nicht das des Despoten oder Feldherrn -, um die zentralen Werte von 1789 aufrecht zu erhalten: Bürgerliche Gleichheit, Demokratie, Modernisierung, Volkssouveränität. Es waren dies dieselben Werte, die sich schließlich die Republik nach 1875 auf die Fahnen schreiben sollte (262). Insofern waren der Napoleonismus und der politische Bonapartismus Emanzipationsbewegungen: "For much of the nineteenth century [the legend] represented much more than romantic nostalgia for the imperial part" (261). Erst nach der Revolution von 1830 übernahm die Monarchie des "Bürgerkönigs" Louis Philippe die Napoleonverehrung und gestaltete sie im Sinne eines Staatskultes mit. Sehr pointiert stellt Hazareesingh die Bedeutung der ersten Napoleon-Biographien für das Bild der Nachwelt dar, insbesondere die Memoiren Constants, die den Kaiser als Vollender und Vertreter liberaler Prinzipien darstellten (164-179).
Einen erneuten Wandel machte der sentimentale "Napoleonismus" unmittelbar vor der Revolution von 1848 zum "Bonapartismus" durch, der die Tradition eines speziellen politischen Systems im Geiste Napoleons suggerierte. Diese abermalige Bedeutungsverschiebung wurde maßgeblich von Napoleons Neffen, Louis-Napoléon, betrieben. Dieser Abschnitt der Studie liefert eine kurze und prägnante Analyse der Jahre zwischen 1836 und 1851 anhand einer zugespitzten Biographie des "Prince-Président". In seiner eigenen Familie als Außenseiter angesehen und von politischen Gegnern verspottet, gelang es ihm, eine Art "modernisierten Bonapartismus" zu kreieren. Im Schatten Napoleons, auf den er sich zwecks Legitimation immer wieder berief (223-225), gewann er die Wahl zum höchsten Amt der Republik. Wie sein entrückter Onkel errichtete auch Napoleon III. eine Monarchie. Er richtete die Medaille von St. Helena ein, die allen noch lebenden Veteranen ungeachtet ihrer Nationalität zugesprochen wurde. Die Veteranen bildeten in Frankreich die Gruppe, die Napoleonbegeisterung verbreitete und die überproportional häufig wegen pro-napoleonischer Ausrufe vor Gericht zitiert wurde. Auf diese Gruppe geht Hazareesingh in einem Kapitel besonders ein. Bei dieser konzentrierten Betrachtung wird gleichzeitig die große Bedeutung der Veteranen für die Verbreitung der Napoleonlegende deutlich.
Das Ausklingen des Napoleonkultes des 19. Jahrhunderts handelt der Autor eher kurz ab. Die Ursache für das Verebben des Phänomens sieht Hazareesingh in der unterschiedlichen Wahrnehmung der jeweiligen Staatsstreiche von 1799 bzw. 1851: "Napoleon's legend never really suffered much damage because of his coup, whereas the reverse was the case for Louis. His image in France remains associated, even today, with the coup d'état that brought down the Second Republic" (232). Nach dem Ende des Zweiten Kaiserreiches war an eine Erneuerung bonapartistischer Herrschaft mittelfristig nicht mehr zu denken.
Die Darstellung einzelner Aspekte des Napoleonmythos bzw. auch des -kultes ist sehr quellennah, methodisch reflektiert und insgesamt in lebendigen Farben gehalten (nur die 26 Abbildungen sind schwarz-weiß). Ein Beispiel dafür ist das 1901 von Reportern geführte Interview mit Vincent Markiewicz, einem 1795 geborenen Leibgardisten Napoleons polnischer Nationalität und späterem Kämpfer für ein liberales Italien (260-261). Der Gesetzgeber Napoleon wurde von der Weltöffentlichkeit nach 1815 als Vorkämpfer für die Gleichheit aller Menschen ohne Rücksicht auf Standesunterschiede angesehen. Das Zwischenspiel der Hundert Tage ermöglichte eine Verehrung für einen Regierungschef, der für Freiheit und Liberalismus eingetreten sei. Napoleons Wirkung auf die gesamte Welt nahm mitunter skurrile Formen an, wenn etwa neben südamerikanische Freiheitskämpfer, die sich Napoleon als Vorbild nehmen, auch Armenier treten, die einen mythischen Helden "Panaporte" verehren, dessen abenteuerliche Sagen erstaunliche Ähnlichkeit mit dem realen Lebenslauf des Korsen aufweisen (7). Zuweilen wirken derlei Beispiele allerdings etwas anekdotenhaft und aufgesetzt. Bei der das zweite Kapitel einleitenden Geschichte, dass eine Visitationskommission der Isère-Präfektur in einem Dorf namens Laffrey, das Napoleon im März 1815 durchritt, von der dortigen Bevölkerung im Jahre 1820 mit dem Ruf "Vive l'Empereur!" vertrieben worden ist (40), ließe sich beispielsweise die Frage nach dem Erkenntniswert und der Repräsentativität derartiger Bagatellen aufwerfen.
Hazareesingh ist dessen ungeachtet ein präziser Beobachter und seine Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar. Seine These einer von Napoleon eher unfreiwillig angestoßenen und für das französische 19. Jahrhundert folgenreichen politischen Einheit von Bonapartisten und Republikanern ist gut fundiert. Der dritte Napoleon hingegen nutzte diesen Personenkult, entgegen dem Willen seiner Familie für politische Ziele. Mit der Durchsetzung des Bonapartismus als "System" (167-171) im Zweiten Kaiserreich zerbrach jedoch zugleich die Einheit mit den Anhängern der Republik.
Die buchtechnische Aufbereitung ist gelungen. Der sehr detaillierte Index ermöglicht einen raschen Zugriff auf behandelte Themen, Personen und Örtlichkeiten. Etwas ambivalenter wirken da die für den anglo-amerikanischen Raum typischen Endnoten. Ein Literatur- und Quellenverzeichnis als solches sucht man jedoch vergebens. Diesem Mangel kann auch der kommentierte Kurzüberblick über Standardwerke und über die jüngere akademische Napoleonliteratur nicht abhelfen (315-318). Die Buchrückenbeschriftung des Verlages ist etwas reißerisch gehalten, gleich mehrfach wird beschrieben, dass es sich um eine "fascinating study" handele. Das Buch sollte und kann allerdings für sich sprechen.
Anmerkung:
[1] Sudhir Hazareesingh: The Saint-Napoléon. Celebrations of Sovereignty in nineteenth-century France, London 2004.
Andreas Becker