Jennifer Schevardo: Vom Wert des Notwendigen. Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der fünfziger Jahre (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Beiheft 185), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 320 S., 10 Tab., ISBN 978-3-515-08860-2, EUR 62,00
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"Warum kostete in der DDR durchweg die Schrippe fast nichts und eine Qualitätshose soviel?" Zu Recht weist Jennifer Schevardo darauf hin, dass die von ihr so anschaulich formulierte Frage nach dem Zustandekommen des Verbraucherpreisgefüges für Konsumgüter in der frühen DDR bislang nur unzureichende Erklärungen gefunden hat. Zwar ist der oftmals zu lesende Hinweis auf das sozialistische Konzept, preisgünstige Waren des täglichen Bedarfs zur Verfügung zu stellen und im Gegenzug Güter für gehobenere Ansprüche teuer zu verkaufen, sicherlich zutreffend. Aber bereits die Interpretation einer Preispolitik des "billigen Brotes" als herrschaftstechnische Beschwichtigungsstrategie überzeugt nur bedingt, weil vor dem Hintergrund des rasch steigenden bundesdeutschen Lebensstandards auch in der DDR Forderungen nach bezahlbaren und technisch hochwertigen Kühlschränken, Fernsehapparaten etc. immer nachdrücklicher erhoben wurden. Natürlich war den Verantwortlichen in der Partei- und Staatsführung diese Situation ebenso bewusst wie der daraus abzuleitende Sachverhalt, dass die Stabilität, ja die Legitimation des eigenen Regimes in hohem Maße vom Ausgang dieses deutsch-deutschen Wettbewerbs abhing - zumal die DDR bis August 1961 noch nicht vollständig vom Westen abgeriegelt war und unzufriedene Personen in die Bundesrepublik fliehen konnten. Die Verbraucherpreise und ihre Gestaltung waren demnach ein Politikum ersten Ranges. Um so dringlicher stellt sich die Frage, weshalb dieses gesellschaftspolitische Instrument doch recht unflexibel gehandhabt worden ist.
Neuere Forschungen haben das Thema "Preispolitik" bislang vor allem im Kontext der Konsumpolitik und -situation in der DDR aufgegriffen, ihm aber kaum eine eigenständige Unersuchung gewidmet. [1] Daher blieben, das verdeutlichen Schevardos Erkenntnisinteresse und der daraus abgeleitete Fragenkatalog, wichtige Probleme bis heute weitgehend ausgeblendet. Im Kern geht es der Autorin um die politischen Konzepte, welche der Verbraucherpreispolitik in der frühen DDR zu Grunde lagen. Als Arbeitshypothese vermutet sie, dass Produktions- und Handelskosten sowie Materialengpässe die konsum- und preispolitischen Entscheidungsspielräume der SED stark einschränkten und ungeplante Effekte auf die Verbraucherpreisentwicklung eintraten. Damit aber wäre das Gestaltungspotenzial der SED in diesem Bereich deutlich geringer einzuschätzen, als es nach landläufiger Meinung der Fall war.
Des Weiteren beschäftigt sich Schevardo mit den Zusammenhängen zwischen Verbraucherpreisentwicklung und Lebensstandard. Dabei geht es ihr weniger um bislang in der Literatur dominierende Fragestellungen nach der (Un-)Zufriedenheit von Konsumenten in der DDR oder nach der Unterbindung möglicher Konsumentenproteste durch die Sicherheitsorgane. Vielmehr geht es ihr um die Frage, welche Vorstellungen innerhalb der SED-Führungszirkel über die berechtigte Bedürfnislage der Bevölkerung diskutiert wurden bzw. - in zeitgenössischer Terminologie - was zum "guten Leben" von Nöten wäre. Diese Form vormundschaftlicher bis bevormundender Herrschaftspraxis markiert einen dem liberalen, am individuellen Recht auch auf konsumtive Selbstbestimmung (oder was dafür gehalten wird) orientierten Gesellschaftsverständnis westlicher Demokratien besonders fremden Anspruch.
Die Autorin greift auf das Instrumentarium der New Institutional Economics zurück. Namentlich die Transaktionskostenanalyse, der property-rights-Ansatz und das principal-agent-Konzept, seien in besonderem Maße geeignet, das institutionelle Design und die Handlungslogik sozialistischer Preisbildungssysteme zu ergründen. Dabei vertritt Schevardo die Auffassung, dass den obersten staatlichen Ebenen, namentlich dem Ministerrat und der Staatlichen Plankommission, gewichtige Entscheidungskompetenzen zugefallen wären, wohingegen das Politbüro bzw. die entsprechenden ZK-Abteilungen eher zurückhaltend agiert und allenfalls bei grundsätzlicheren Fragen in die Verbraucherpreisentwicklung eingegriffen hätten. Die historisch-empirische Untersuchung setzt in Kapitel 2 mit einer ausführlichen Darstellung und Interpretation der sozialistischen Theorien bezüglich Arbeitswertlehre und Preisbildung ein. Anschließend untersucht die Autorin die Preispolitik des SED-Regimes, beginnend mit der Währungsreform im Juni 1948 bis zur Kurskorrektur nach dem 17. Juni 1953 (Kapitel 3). "Im Zeichen des Festpreises" erscheinen die Jahre 1953 bis 1958, denen das vierte Kapitel gewidmet ist, gefolgt von einer krisenhaften Entwicklung 1958 bis 1961 (Kapitel 5). Im vorletzten Kapitel diskutiert Schevardo die Auswirkungen der Preispolitik auf den Lebensstandard, wobei sie eine Indexneuberechnung der Lebenshaltungskosten vornimmt. Den auf den ersten Blick etwas kryptisch anmutenden Titel "Vom Wert des Notwendigen" decodiert die Autorin zum Schluss, wenn sie im siebten Kapitel den Kontext von Preisbildung, Lebensstandard und Legitimität schlüssig darlegt.
Schevardos Studie fördert einige interessante, bislang in dieser Form weniger bekannte bzw. problematisierte Ergebnisse zu Tage. Zwar wusste man um die punktuellen Reaktionen des SED-Regimes auf konsumbedingte Unzufriedenheit in der Bevölkerung - hier hätte man sich einen Hinweis auf die "Aktion Weihnachtsteller" im Winter 1952/53 vorstellen können; klar wird aber, dass letztlich volkswirtschaftliche Zielsetzungen wie "industrieller Aufbau", "sozialistische Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse" und "Planerfüllung" meist vorrangig behandelt wurden, selbst auf die Gefahr einer allgemeinen Stimmungsverschlechterung. Allerdings sorgten die Erfahrungen des 17. Juni 1953 dafür, dass zumindest das Umsturzpotenzial derartiger Unzufriedenheit künftig höher eingeschätzt wurde. Bezüglich der Antizipation individueller Konsumbedürfnisse arbeitet die Autorin deutlich heraus, wie sehr sich die SED-Führung an den Leitlinien der traditionellen Arbeiterbewegung orientierte, dabei aber einer konkreten Definition der vielfach strapazierten "Grundbedürfnisse" auswich. Weder innovationsbedingte Wandlungen in der Konsumgüterpalette noch Änderungen der Konsumentenwünsche auf Grund bestimmter Modekonjunkturen berücksichtigten die Verantwortlichen in hinreichendem Umfange.
Die Dissertation von Schevardo schließt methodisch an durchaus bewährte Ansätze der jüngeren Wirtschaftsgeschichte zur DDR an. Das theoretische Konzept erschließt die historisch-empirische Ausführung in nachvollziehbarer Weise und etliche der Befunde werden die Diskussion über die Gestaltungsspielräume staatlich-parteilicher Akteure beleben. Allerdings lotet die Autorin die Erklärungsreichweite einiger ihrer Ergebnisse nicht ganz zufriedenstellend aus. Um nur zwei Anregungen zu geben: 1. Der obrigkeitliche normative Anspruch bezüglich des "guten Lebens", sprich der wie auch immer definierten 'berechtigten Konsumbedürfnisse, dürfte mit Blick auf kulturgeschichtliche bzw. systemübergreifende Kontexte weitere spannende Fragen aufwerfen. 2. Die von der Autorin überzeugend nachgewiesene Inflexibilität der Führungskreise in Staat und Partei bezüglich der weitreichenden Veränderungen im Bereich Konsum hätte eine Interpretation im Zusammenhang mit der vielfach nachgewiesenen generellen, systembedingten Innovationsschwäche verdient gehabt.
Solcher Einschränkungen zum Trotz hat die Autorin einen Beitrag zur Geschichte der DDR-Wirtschaft geleistet, an dem man künftig nicht vorbeikommen wird.
Anmerkung:
[1] Hervorzuheben Peter Hübner: Konsens, Konflikt und Kompromiss. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995; Philipp Heldmann: Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks. Konsumpolitik in der DDR der sechziger Jahre, Göttingen 2006.
Peter E. Fäßler