Henning Pahl: Die Kirche im Dorf. Religiöse Wissenskulturen im gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel; Bd. 18), Berlin: Akademie Verlag 2006, 363 S., ISBN 978-3-05-004198-8, EUR 69,80
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Das Ergebnis der bei Lothar Gall erstellten Frankfurter Dissertation von Henning Pahl bestätigt den sich seit einigen Jahren differenzierenden historischen Diskurs über das 19. Jahrhundert: Die Modelle einer linearen Entwicklung, die zwischen den beiden Forschungsmeinungen einer fortschreitenden Entchristlichung oder eines "zweiten konfessionellen Zeitalters" oszillieren, tragen nicht. Der mikrohistorische Blick auf kleine Einheiten zeigt die Differenziertheit der religiösen Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Es stehen "Prozesse der Säkularisierung neben Prozessen religiöser Identitätsfindung" (310).
Zu diesem zwar keineswegs überraschenden, doch bisher eher für Industriegebiete und rasch wachsende Städte und stärker für den rheinisch-westfälischen als den süddeutschen Raum nachgewiesenen Resultat kommt Pahl durch seinen Vergleich mehrerer württembergischer Landgemeinden aus dem Kreis Esslingen. Die leitende Fragestellung ergibt sich aus dem an der Universität Frankfurt angesiedelten Forschungskolleg 435 über "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel". Den dort zu Grunde gelegten Wissensbegriff, der sowohl propositionales als auch praktisches und Regelwissen umfasst, wendet Pahl auf das Dreieck Religion in der ländlichen Gesellschaft, Beziehung zur Institution Kirche und Konfrontation mit dem sozialen Wandel an. Konsequent bezieht er dabei mehrere Dörfer ein, bei denen sich im Lauf des 19. Jahrhunderts weder die Bevölkerungszahl signifikant änderte noch die konfessionelle Homogenität evangelischer oder katholischer Religionszugehörigkeit ins Wanken geriet. Durch die Zugehörigkeit zum Königreich Württemberg waren im Untersuchungszeitraum für alle Dörfer die (staatskirchen-)rechtlichen Rahmenbedingungen gleich: In enger Zuordnung zum Staat waren die Kirchen in der Regelung ihrer internen Angelegenheiten weitgehend frei. Der Prozess der Industrialisierung machte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkbar, ohne jedoch zu einer Verstädterung zu führen.
Religiosität und Kirchlichkeit entwickelten sich dabei in den Konfessionen verschieden. Während in den katholischen Gemeinden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine verstärkte Identifikation mit Kirche erfolgte, gab es in den evangelischen Pfarreien einen größer werdenden Teil, der nicht mehr an den kirchlichen Feiern teilnahm. Vor allem an der Frequentierung des Abendmahls zeigen sich die Unterschiede zwischen katholischer und protestantischer Frömmigkeitspraxis, was die Befunde vorausgehender Studien zu Katholizismus und Protestantismus des vorletzten Jahrhunderts bestätigt.
Wissenskultur schlägt sich im Buchbesitz und in der Lektüre nieder. Unter dem Einfluss aufgeklärter Geistlicher waren die Katholiken hier lesefreudiger als nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Protestanten besaßen zwar mehr Bücher und vergrößerten ihren Buchbesitz auch nach der Eheschließung mehr als Katholiken, doch existierten Leihbibliotheken nach 1900 nur in den katholischen Gemeinden. Eine eigentliche Teilnahme an den Kommunikationsprozessen der untersuchten Jahrzehnte kann freilich weder für Katholiken noch für Protestanten in den württembergischen Dörfern ausgemacht werden.
Signifikante konfessionelle Unterschiede zeigen sich im Vereinswesen. Pietistische Versammlungen bestanden in den evangelischen Gemeinden zwar durchgängig, auch in der Bekenntnisform des Methodismus, doch ansonsten waren die evangelischen Geistlichen religiösen Vereinen gegenüber sehr zurückhaltend. Katholischerseits hingegen bildeten die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts neben Bruderschaften, Drittem Orden und Gesangverein (Kirchenchor) neu gegründeten religiösen Vereine Strukturen aus, die einem geschlossenen katholischen Milieu zumindest recht nahe kamen. So muss Pahl resümieren, dass die Zugehörigkeit zu einem konfessionell organisierten Verein in den evangelischen Dörfern weit mehr ein öffentliches Glaubensbekenntnis darstellte als in den katholischen Gemeinden. Auffallend ist der Befund, dass hinsichtlich der nationalen Identifikation kaum Unterschiede zwischen den Konfessionen bestanden; der in anderen Gegenden protestantisch besetzte Sedanstag wurde vom katholischen Geistlichen wie selbstverständlich mit einer Festrede umrahmt! Offensichtliche Unterschiede bestanden in der Wahrnehmung der sozialen Frage, die von der evangelischen Synode erst 1892 thematisiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Problembewusstsein für egoistisches Luxusstreben der Unternehmer und die Lage der Arbeiter auf katholischer Seite bereits 20 Jahre älter. Pahl sieht darin einen Grund für die unterschiedliche Bindekraft der Konfessionen auf dem Land.
Einen konfessionellen Antagonismus kann Pahl für seine Dörfer nicht wahrnehmen. Spannungen ergaben sich vor allem innerhalb des Protestantismus, für den in Württemberg die religiösen Virtuosen des Pietismus auf der einen und separatistische Gruppierungen auf der anderen Seite typisch sind. In den Dörfern um Esslingen waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Methodisten, deren Missionstätigkeit zu einer relativ starken Verbreitung dieser Gruppierung führte. Die Abgrenzung der Landeskirche von den Methodisten machte die Weiterentwicklung der evangelischen Wissenskultur offenbar, die Pahl in der "Emanzipation des Individuums einerseits gegenüber sozialen Institutionen, andererseits gegenüber der Gemeinschaft als solcher" (303) sieht.
Pahls Studie schließt sich an die Forschungen zum Milieu an, wie sie für das 19. Jahrhundert mittlerweile für eine Reihe von Regionen vorliegen. Neben der Untersuchung von Tobias Dietrich für Hunsrück, Elsass und die Schweiz ist er jedoch der Erste, der sich um einen Zugriff auf die kleinräumigen dörflichen Strukturen müht. Die Ergebnisse bestätigen zum Teil die für größere soziale Räume gewonnene Erkenntnis eines Bedeutungszuwachses für die katholische Konfession ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch der höhere Stellenwert von Bildung unter den Protestanten findet eine empirische Untermauerung. Erstaunlich bleibt jedoch, dass die Spannungen zwischen den beiden Großkonfessionen, die auf der Ebene der deutschen Länder und des Kaiserreichs seit Wolfgang Schieder spätestens mit der Trierer Heilig-Rockwallfahrt von 1844 angesetzt werden und in die Kulturkämpfe der 1860er- bis 1880er-Jahre führten, auf der dörflichen Ebene nicht verifiziert werden können. Weitere Lokaluntersuchungen könnten hier zu größerer Klarheit verhelfen. Der Appell des Autors am Ende seiner Studie kann deshalb nur unterstrichen werden. Die großen Linien der Entwicklung von Katholizismus und Protestantismus im 19. Jahrhundert sind weitgehend klar. Inwiefern sie sich jeweils auf regionaler und lokaler Ebene abbildeten oder ob "normale" Entwicklungen eher die Ausnahme darstellten, kann erst durch weitere Studien erhellt werden. Dass hierfür nun auch der südwestdeutsche Raum in den Blick gerät, muss nachdrücklich begrüßt werden.
Joachim Schmiedl