Thomas Serrier: Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska: Eine Grenzregion zwischen Deutschen und Polen 1848-1914 (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 12), Marburg: Herder-Institut 2005, X + 309 S., ISBN 978-3-87969-324-5, EUR 39,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die zunächst in Frankreich veröffentlichte Dissertation von Thomas Serrier [1] liegt nun auch in deutscher Sprache vor. Gegenüber der französischsprachigen Version ist sie erweitert worden und lässt nun auch in ihrem Titel eindeutig erkennen, dass sie sich mit der Provinz Posen beschäftigt. Den Verfasser interessiert die Frage, ob die "kollektive Aneignung eines Territoriums" durch die zu einem erheblichen Anteil neu zugewanderte deutsche Bevölkerung geglückt ist. Anhand des erstmals ausgewerteten Aktenbestandes der "Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen" (HGPP), von Presseberichten sowie schöngeistiger, geschichtswissenschaftlicher und propagandistischer Literatur, die während des Betrachtungszeitraumes in und über Posen erschienen ist, analysiert er die Abgrenzungsprozesse gegenüber der polnischen Bevölkerung und den Diskurs, der die Teilungen Polens und den deutschen Anspruch auf die Provinz legitimieren sollte (9). Es liegt also keine Vereinsgeschichte vor, die für sich genommen schon eine bedeutende Forschungslücke geschlossen hätte, sondern nichts weniger als der Versuch, die Posen-Forschung der zurückliegenden Jahrzehnte, die in Deutschland zuletzt einen spürbaren Aufschwung erlebte, mit einem detaillierten interpretatorischen Überbau zu versehen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Kategorien "Grenze" und "Identität".
Der Verfasser behandelt seine Fragestellung in drei großen Themenblöcken. Im ersten Abschnitt "Staat, Minderheiten, Integration" beschreibt er, noch ganz überwiegend auf der Basis von Sekundärliteratur, die jeweiligen Charakteristika der deutschen, polnischen und jüdischen Bevölkerung. Mit einer ganzen Reihe origineller Beobachtungen veranschaulicht er hier die keineswegs neue Erkenntnis, dass der deutsche Bevölkerungsteil politisch und gesellschaftlich stärker fragmentiert war als der polnische, während die Posener Judenheit, die im Verlauf des Jahrhunderts kontinuierlich schrumpfte, mehrheitlich darum bemüht war, eine eindeutige Positionierung im deutsch-polnischen Konflikt zu vermeiden. Unter der Überschrift "Grenze und Peripherie" behandelt der zweite Hauptteil die Selbstwahrnehmung der Posener Eliten, wobei die Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen den deutschen und den polnischen Aneignungsprozessen besondere Beachtung verdienen. Als Fallbeispiele für die konkurrierenden Rezeptionsversuche, deren Darstellung der Verfasser stets in weiterführende Überlegungen zum Posener kulturellen Leben einbettet, dienen Napoleon Bonaparte, Heinrich Heine und Friedrich Schiller. Akkulturationsprozesse beschränkten sich eher auf die unteren Volksschichten, die kulturellen Lebenswelten der Deutschen und Polen drifteten hingegen im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter auseinander. Dieser Prozess hatte aber für die beiden beteiligten Parteien unterschiedliche Auswirkungen: Während Schiller-Aufführungen vom polnischen Publikum durchaus goutiert wurden als Ausdruck antityrannischer Gesinnung, hätte sich ein Mickiewicz-Drama - so könnte man Serriers Ausführungen ergänzen - von einem deutschen Publikum politisch überhaupt nicht nutzbar machen lassen.
Der dritte und zugleich umfangreichste Abschnitt "Die Erfindung einer Grenzprovinz" widmet sich der HGPP und ihrem wohl bedeutendsten Vertreter Adolf Warschauer. Bezug nehmend auf seine zuvor angestellten grundsätzlichen Überlegungen verortet ihn der Verfasser "zwischen preußischer Loyalität, jüdischer Identität und polnischem Kontext" (197). Die HGPP insgesamt oder der an der Königlichen Akademie lehrende Otto Hoetzsch strebten hingegen stärker danach, den angeblich deutschen Charakter der Provinz wissenschaftlich zu fundieren. Dass die kollektive Aneignung einer heimatlichen Region durch die Deutschen scheiterte, lag im Wesentlichen darin begründet, dass nicht einfach nur Erinnerungen bewahrt werden mussten, sondern überhaupt erst ein System von Anhaltspunkten für eine deutsche Identität zu entwickeln war. Literatur, aber auch die Wissenschaft, schlugen unter diesen Vorzeichen fast schon zwangsläufig in Propaganda um, da nur über die Leugnung bzw. Ignorierung des polnischen Gegenübers und seiner historischen Traditionen aus der "Wielkopolska" die "Ostmark" werden konnte. Das in der Publizistik und Historiografie überstrapazierte Schlagwort "Germanisierung", auch hierin ist dem Verfasser zuzustimmen, wird der Komplexität dieser gesellschaftlichen Prozesse nicht gerecht.
Häufiger als man es sonst von Dissertationen gewöhnt ist, löst sich Serrier von seinem Quellenmaterial - sei es, um die Identitätsbildungsprozesse in Posen in weitläufigeren, auch europäischen Zusammenhängen zu kommentieren, sei es, indem er von einzelnen Werken bzw. Autor/inn/en Rückschlüsse auf das 19. Jahrhundert in Posen insgesamt zu ziehen versucht. Zugleich gibt er aber auch immer zu erkennen, an welchem Punkt er die Grenze zu einer unzulässigen Verallgemeinerung überschritten sähe. Auf diese Weise ist ihm ein im besten Sinne des Wortes durchdachtes Buch gelungen - leider aber mit einigen formalen Auffälligkeiten, die das Lesevergnügen leicht beeinträchtigen. So erfasst die Literaturliste entgegen aller wissenschaftlichen Gepflogenheiten längst nicht alle herangezogenen Titel, vielmehr wird ein Teil der Literatur durch Rückverweise in den Anmerkungen erschlossen. Dieses nutzerunfreundliche Verfahren bringt es mit sich, dass in einigen Fällen Kurztitel weder in der Literaturliste auftauchen noch auf den vollständigen Titel zurückverweisen (z. B. 132, Anm. 4). Der nicht immer flüssig wirkende Sprachstil lässt erahnen, welche Herausforderungen sich dem Übersetzer Achim Russer gestellt haben - dass aber ausgerechnet in diesem so abwägend argumentierenden Werk immer wieder von den "polnischen Teilungen" die Rede ist, muss ebenso dem Autor angelastet werden wie die gelegentliche Wiederholung biografischer Informationen. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass er beim Nachdenken über das Große und Ganze etwas zu nachlässig mit Jahreszahlen umgegangen ist: So wurde die Akademie nicht 1904, sondern 1903 eingeweiht und ihr Neubau 1910 (159 f. und 258), aber so oder so konnten unmöglich schon 1902 Akademie-Studenten die Posener Bibliotheken benutzt haben (161 f. mit Anm. 140). Warschauers Umzug nach Danzig datiert er wahlweise auf 1912 oder 1913 (162 f.), und das Kaiser-Friedrich-Museum wurde nicht "um 1900" (124), sondern eindeutig 1904 eröffnet. Als Nachschlagewerk eignet sich das Werk also nur mit Einschränkungen, was aber nicht dessen eigentliches Verdienst abwerten soll, die Erforschung der Posener Mentalitätsgeschichte auf ein bis dato unerreichtes Niveau gebracht zu haben.
Anmerkung:
[1] Thomas Serrier: Entre Allemagne et Pologne. Nations et identités frontalières, 1848-1914, Paris 2002.
Christoph Schutte