Dietmar Willoweit / Hans Lemberg (Hgg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation (= Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa; Bd. 2), München: Oldenbourg 2006, 449 S., ISBN 978-3-486-57839-3, EUR 44,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der aus zwei Tagungen des Herder-Forschungsrats zum "Verhältnis von Reichen und Territorien in Mittelalter und früher Neuzeit" und zu "nationalen Legitimations- und Anspruchskonstruktionen gegenüber solchen vormodernen Herrschaftsverhältnissen" hervorgegangene Sammelband enthält 21 Beiträge in ungleichmäßiger Dichte zu Ostmitteleuropa zwischen Livland und Kroatien. Über die Großregion hinaus geht der abschließende Beitrag von Wolfgang Höpken, der die nationalen Identitätskonstruktionen in Serbien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien behandelt und gerade in dem Fehlen von an älteres Staatsrecht angelehnten Legitimationskonstruktionen des 19. Jahrhunderts eine spezifische Differenz Südosteuropas gegenüber Ostmitteleuropa herausstellt.
Der in erster Linie rechts- und verfassungshistorische Ausgangspunkt der Beschäftigung mit vorstaatlichen Reichen, Unionen und den Territorien, die sich in staatsrechtlich kaum zu definierenden "zwischenherrschaftlichen" und lehnsrechtlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu diesen befanden, wird einleitend von den Herausgebern umschrieben: Neuzeitliche Souveränitätsverstellungen (abgeleitet von Jean Bodin) und der frühmoderne Staatsbegriff seien in Ostmitteleuropa vor dem 18. Jahrhundert kaum anwendbar, sondern lediglich wiederholt von der Geschichtswissenschaft auf komplexe Herrschaftskonstellationen rückprojiziert worden. Diese bemerkenswerte Feststellung - die einen erheblichen Teil insbesondere der deutschsprachigen rechtshistorischen Fachliteratur infrage stellt - hätte eine sorgfältige Untersuchung verdient, zumal normative Souveränitätsvorstellungen und der Rekurs auf einen idealtypischen frühmodernen Staat auch heute noch vielfach die Literatur prägen. Für die "zwischenherrschaftlichen Beziehungen" im Mittelalter wird dies in einem Zwischenfazit von Dietmar Willoweit skizzenhaft geleistet (275-284).
Insgesamt wird jedoch ein anderer Zugriff, von der Ebene der konkreten Herrschaftsverhältnisse in den Territorien ausgehend, gewählt: Anhand von (teilweise nationalhistoriografisch aufgeteilten deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen) Koreferaten werden die Abhängigkeitsverhältnisse insbesondere des Preußenlandes (drei Beiträge), Schlesiens und Böhmens (je zwei Beiträge) von den übergeordneten Reichs- und Unionsstrukturen analysiert. Dieser Ansatz geht - wohl zu Recht - davon aus, dass in den Nationalhistoriografien nationale Umdeutungen und einseitige Herausstellungen von Abhängigkeiten bis heute fortbestehen. Allerdings werden solche Argumentationsmuster in den Beiträgen nur selten offen gelegt und dekonstruiert, sondern können nur mit Vorwissen und lediglich zwischen den Zeilen gelesen werden. Äußerst anregend und kenntnisreich werden solche Argumentationsmuster etwa von Matthias Weber in dessen Aufsatz zur "Ausbeutung der Vergangenheit" Schlesiens und dessen Abhängigkeit vom Alten Reich und der polnischen und böhmischen Krone durch die deutsche, polnische und tschechische Historiografie behandelt. Hervorzuheben ist aufgrund der Dichte der Argumentation ferner Peter Moraws Beitrag zu "Böhmen und dem Reich", der nachhaltig alle Argumente einer "Sonderstellung Böhmens" infrage stellt.
Die Konzentration auf das Preußenland, Schlesien und Böhmen wird jedoch nirgendwo begründet oder hinterfragt: Angesichts der nur schwach vertretenen Beiträge zu Polen-Litauen oder zur ungarischen Krone (je ein Beitrag) und des Fehlens von Beiträgen zu nicht (auch) deutsch geprägten Regionen (etwa Masowien oder Halyč-Galizien) entsteht der Eindruck, unter "Ostmitteleuropa" seien im Kern die oben genannten Territorien zu verstehen. Dies schafft einen in mancher Hinsicht schiefen, weil deutschzentrierten Blick, in dem die zwischen dem 11. und dem 18. Jahrhundert zentralen Herrschaftsbildungen der Region - nämlich die polnische, die böhmische und die ungarische Krone - unterbelichtet bleiben. Sichtbar wird diese Problematik in dem lesenswerten, weil systematisch angelegten Beitrag zu "Herrschaftsverbindenden Funktionen des Lehnsrechts" (Thomas Brückner), der aber ausschließlich auf das Reichslehnsrecht konzentriert ist und die nur begrenzte Wirksamkeit des Lehnsrechtes in Ostmitteleuropa nicht zur Kenntnis nimmt. Ostmitteleuropäische (polnische, tschechische, ungarische) Studien zur Reichweite des Lehnsrechts in Ostmitteleuropa (etwa von Henryk Łowmiański oder Sławomir Gawlas) werden kaum berücksichtigt.
Diese eigentümliche Ausblendung der prägenden Faktoren ostmitteleuropäischer Herrschaftsstrukturen geht noch weiter: Die im Bandtitel genannten "Reiche in Ostmitteleuropa" werden nirgendwo thematisiert. Nur implizit wird sichtbar (9), dass damit neben dem Alten Reich auch Polen-Litauen (und auch die ungarische Krone?) gemeint sind. Dabei ist das Postulat eines "Reichscharakters" für den polnisch-litauischen wie ungarischen Fall in hohem Maße erklärungsbedürftig, denn der Reichsbegriff (den der Rezensent durchaus für heuristisch ergiebig hält) wurde auf die beiden Verbände nicht nur von Zeitgenossen kaum angewandt, noch wird er von der Historiografie in diesem Kontext häufiger gebraucht.
Dass ein solcher Ansatz durchaus fruchtbar sein kann, wird insbesondere in dem umfangreichen (129-162) und in der Quellen- wie Literaturbasis sorgfältig abgestützten Beitrag von Mathias Niendorf zur Unionsverfassung zwischen Polen und Litauen zwischen 1386 und 1795 deutlich. Niendorf zeichnet - erstmals in der westsprachlichen Literatur - die Komponenten der polnisch-litauischen Unions- und Reichsverfassung nach und benennt nach Auswertung der Forschungsliteratur das Kernproblem: "Dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß sich bei Slaven und Balten ungeachtet einzelner Ansätze ein Lehnswesen im westlichen Sinne nicht hat herausbilden können." (143) Was trat an dessen Stelle? Dem Verfasser zufolge vielfältige und ambivalente Strukturen patrimonialen und dynastischen Herrschaftsrechts, in dem Kategorien von Vasallität und Untertänigkeit, aber auch personaler Unabhängigkeit in komplexen Mischungsverhältnissen auftraten. Hinzu wäre noch der Einungs- und Bundcharakter zwischen Nachbarn und Standesgenossen hervorzuheben, der in Ostmitteleuropa ebenfalls staatsbildenden Charakter besaß. Exemplifiziert wird dies über den Beitrag von Niendorf hinaus nur durch Bogusław Dybaś für Polnisch-Livland (Lettgallen), ein in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wenig erforschtes Territorium.
Eine Funktion der geografischen Lage zwischen den Herrschaft und herrscherliche Abhängigkeiten organisierenden Reichsverbänden war die Entstehung exempter Bistümer, die von Hans-Jürgen Karp für Kammin, das Ermland und Breslau vergleichend beschrieben wird. Gemeinsam war diesen kirchlichen Herrschaftsgebilden eigenen Rechts, dass sie durch ein Ausbalancieren der Einflüsse reichisch verorteter Erzbistümer (Magdeburg und Gnesen) entstanden; im Falle Breslaus erfolgte die Lösung von Gnesen unter dem bestimmenden Einfluss des Wiener Kaiserhofes. Die hier bestehenden eigenen Herrschaftspositionen der Domkapitel verdienten eine nähere Analyse. Die für Ostmitteleuropa charakteristische enge Verbindung von Herrschaft und kirchlicher Raumgliederung wird von Joachim Bahlcke anhand des ungarischen Beispiels für das 18. Jahrhundert behandelt. Insgesamt ist die stärkere Berücksichtigung kirchlicher Herrschaftsrechte ein innovativer Beitrag, da diese Perspektive in den ostmitteleuropäischen Historiografien zu kurz kommt.
Der zweite, weniger umfangreiche Teil des Bandes ist den nationalen Umdeutungen älterer Herrschaftskonstellationen gewidmet: Durchgängig erkennbar ist hier insbesondere für das 19. Jahrhundert die Tendenz, situativ erteilte ältere ständische Privilegien zu nicht hinterfragbaren national konnotierten "Staatsrechten" umzudeuten, wie dies für die livländischen Privilegien bei den deutschbaltischen Ritterschaften (Gert von Pistohlkors), das "böhmische Staatsrecht" in der tschechischen Nationalbewegung (Peter Haslinger) und die Konstruktion des "kroatischen Staatsrechts" (Wolfgang Kessler) deutlich gemacht wird.
Als ärgerlich für die Benutzbarkeit eines Sammelbandes dieses Umfangs muss - auch angesichts der zahlreichen, sich aufeinander beziehenden Beiträge - das Fehlen jeglicher Register angesehen werden. Ins Auge fallen darüber hinaus sprachliche und terminologische Unklarheiten (vgl. 74/75, 77, 86 - sinnentstellend, anstelle Derws muss es Drews heißen -, 176 - Anmerkung fehlt -, 311-328 - Pommerellen-Begriff -, 313, 367, 376). Hier wäre ein Endlektorat hilfreich gewesen.
Inhaltlich bietet der Band insbesondere dank des Aufgebens anachronistischer Vorstellungen von Souveränität und einem frühmodernen Staat zahlreiche neue Ansätze, die aus vergleichender Rechts- und Verfassungsperspektive systematisch weitergeführt werden sollten. Unabdingbar sind dafür jedoch die stärkere Behandlung (und Definition) der zentralen Reichsgefüge Ostmitteleuropas und die intensivere Rezeption ostmitteleuropäischer rechtshistorischer Beiträge. Anzuregen wäre auch eine - begriffsgeschichtlich angereicherte (vgl. das Postulat von Wolfgang Kessler, 402) - systematische Durchsicht, wie die lehnsrechtlichen Formeln in der Region begrifflich verwandt und inhaltlich umgesetzt wurden und welche zeitgenössische Terminologie anstelle von modernen Souveränitäts- und Staatsvorstellungen in der Großregion dominierte.
Hans-Jürgen Bömelburg