Flurin Condrau: Die Industrialisierung in Deutschland (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, VIII + 139 S., ISBN 978-3-534-15008-3, EUR 16,90
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Dieter Ziegler: Die Industrielle Revolution (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, VII + 152 S., ISBN 978-3-534-15810-2, EUR 14,90
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"Die industrielle Revolution" von Dieter Ziegler und "Die Industrialisierung in Deutschland" von Flurin Condrau haben als erste Publikationen für das Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Eingang in die Lehrbuchreihen "Geschichte Kompakt" und "Kontroversen um die Geschichte" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) gefunden. Es ist zu hoffen, dass die WBG weitere Bände folgen lässt. Denn die mit den beiden Reihen verbundenen Ziele und der Anspruch, historisches Basiswissen zuverlässig und komprimiert aufzubereiten (Geschichte Kompakt) und neueste Forschungsergebnisse sowie wissenschaftliche Debatten zu präsentieren und zu kommentieren (Kontroversen um die Geschichte), verdienen es, weiter verfolgt zu werden. Bedauernswert ist, dass ausgerechnet die Präsentation historischen Basiswissens (Ziegler) ohne Nachweise erfolgt, zumal die Gebundenheit von Forschungsperspektiven, Methoden und Theorien ein zentrales Thema der Geschichtswissenschaften sind und daher kenntlich gemacht werden sollten. In diesem Zusammenhang sind die leidigen Fußnoten wirklich eine Hilfe. Gleichwohl hängt die wissenschaftliche Qualität von Büchern nicht vom Anmerkungsapparat ab. Die beiden Publikationen legen Zeugnis davon ab: das Buch von Dieter Ziegler, ein ausgewiesener Experte für die Geschichte der Industrialisierung, kann uneingeschränkt empfohlen werden - dies gilt aus meiner Sicht für den Band von Flurin Condrau nicht.
Dieter Ziegler hat ein gut konzipiertes, sorgfältig argumentierendes und in jedem Fall lehrreiches Buch geschrieben, eine zuverlässige Informationsquelle zur Geschichte der Industrialisierung in Deutschland. Seine Darstellung ist durchweg auf dem Stand der wirtschaftshistorischen Forschung und sie folgt einem originären Konzept, das sich von anderen Lehrbüchern unterscheidet. Ziegler nimmt die Ergebnisse der wirtschaftshistorischen Forschung sehr ernst und verabschiedet sich von dem Versuch, eine Geschichte der "deutschen Industrialisierung" zu schreiben. Denn die ungleichzeitigen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen und in den deutschen Staaten folgten keinem einheitlichen Muster.
Ziegler unterscheidet dominante Phasen und Typen der Industrialisierung: (1) die leichtindustrielle Phase von 1770-1840, (2) die schwerindustrielle Phase von 1830 bis 1890, (3) die Phase der "neuen" Industrien von 1880 bis 1914. Er zeigt, dass diese Phasen nicht einfach aufeinander folgten, sondern unterschiedliche regionale Schwerpunkte hatten und unterschiedliche institutionelle Arrangements hervorbrachten. Einen zentralen Stellenwert in Zieglers Argumentation nehmen regionale industrielle Kerne und wirtschaftliche Führungssektoren ein, die sich durch eine hohe Wachstumsdynamik und Koppelungseffekte mit anderen Sektoren auszeichnen. Neben der profunden Darstellung der industriellen Entwicklung stehen die veränderte Rolle und Funktion des Staates (bzw. der verschiedenen deutschen Staaten) und die sozialen Auswirkungen des Industrialisierungsprozesses im Mittelpunkt des kurzweiligen Bandes, der allen an der Industrialisierungsgeschichte Interessierten empfohlen werden kann und sich vorzüglich als Begleitlektüre für Seminare und zur Prüfungsvorbereitung von Studierenden eignet.
Flurin Condrau untersucht sieben Themenbereiche: (1) Konzepte der Industrialisierung, (2) Wirtschaftskrisen und ihre Interpretation, (3) Wirtschaft, Staat und Politik, (4) Frauen, (5) Lebensstandard, (6) Technik und technischer Wandel, (7) Bevölkerung und Gesundheit, die er für einzelne Fragen bis in die 1960er-Jahre untersucht (Gesundheit, Frauen). Mithin verwendet Condrau einen sehr weiten Begriff der "Industrialisierung", der allerdings weder in der "Einleitung" noch im Zusammenhang der "konzeptionellen Überlegungen" diskutiert und begründet wird. Jedes der sieben Kapitel ist in sich abgeschlossen. Verdienstvoll ist die Einbeziehung der britischen Debatten (Konzepte, Lebensstandard, Technik), wenngleich einige zentrale Veröffentlichungen nicht berücksichtigt sind, wie z. B. im Zusammenhang der Frage "Why was England first?" (20 ff.) die gewichtigen Beiträge von Joel Mokyr, und der referierte Diskussionsstand nicht immer aktuell ist (standard of living-debate, 74).
Die inhaltliche Breite ist ein Vorzug des sehr "schmalen" Bändchens von 120 Textseiten. Sie ist auch seine größte Schwäche. Denn einen zutreffenden Überblick, präzise Informationen über die Geschichte der Industrialisierung und die wirtschaftshistorischen Debatten erhält der Leser leider nicht. Das Buch macht vielmehr den Eindruck, aus einer breit angelegten Vorlesung zur Geschichte der deutschen Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert entstanden zu sein. Doch hier handelt es sich um ein Handbuch und gerade wegen des knappen Raums von 120 Textseiten wäre eine Begrenzung der Problemfelder und ein präziser Begriff der "Industrialisierung" notwendig gewesen, um der "Examensvorbereitung" (einer wichtigen Zielrichtung der Reihe) dienen zu können. Auf Grund der Themenbreite und der Komprimierung sind jedoch (1.) die wesentlichen Grundzüge der Industrialisierung nicht hinreichend präzise bestimmt. Und (2.) ist die in vielen Teilen anregende, zum Teil auch Widerspruch provozierende Darstellung an verschiedenen Stellen so stark verkürzt, dass sie nicht nur lücken- sondern auch fehlerhaft ist und komplexe ökonomische und politische Prozesse mitunter missverständlich zusammengefasst sind. Hier können nur einzelne Beispiele genannt werden.
1. Lückenhaft: Das Kapitel Wirtschaftskrisen befasst sich zentral mit der Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1929 und der "Borchardt-Kontroverse". Aus meiner Sicht ist die Konzentration der Kontroverse auf mögliche Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik problematisch, weil der zweite Aspekt der Debatte ("zu hohe Löhne"; Überforderung des Sozialstaats) zwar benannt, aber unterbelichtet bleibt (43). Die Argumentation wird daher der wirtschaftshistorischen Kontroverse und der durch sie hervorgerufenen neuen Forschungsimpulse nur teilweise gerecht, und behandelt vor allem Fragen, an denen die politische Geschichtsschreibung interessiert ist.
2. Fehlerhaft: Die Überwindung der sog. "Malthusianischen Falle" im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert erklärt der Autor an zwei verschiedenen Stellen zweimal unterschiedlich: einmal (falsch) durch die Produktivitätssteigerungen in der Industrie ("Die im Laufe der Zeit erzielten Produktivitätssteigerungen [der Industrie, AR] regten zunächst die Investitionstätigkeit an, aber schon bald kam es zu einem bisher nicht gekannten Anstieg der Löhne, der die Überwindung der alten Subsistenzwirtschaft und damit der "malthusianischen Falle" nach sich zog." 75), ein anderes Mal (richtig) durch Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft ("erst durch die [...] Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft wurde nicht nur das Kapital [die Arbeitskräfte nennt Condrau nicht] für industrielle Unternehmen bereitgestellt, sondern auch der Übergang zu andauerndem Bevölkerungswachstum durch eine [...] Erweiterung des Nahrungsspielraumes überhaupt erst ermöglicht." 100) Ein Lehrbuch sollte seinen Lesern nicht die Qual der Interpretation überlassen.
3. Auch von sachlichen Fehlern ist das Buch leider nicht frei. So liest der erstaunte Leser, dass die "alte Reichsmark [...] 1870/71 als Einheitswährung des Deutschen Kaiserreichs" (53) eingeführt worden sei. Doch gerade ein Examenskandidat sollte konfrontiert mit einer entsprechenden Frage zur Herausbildung einer einheitlichen deutschen Währung schon wissen, dass das Kaiserreich 1871 gegründet wurde, die einheitliche Währung "Mark" hieß und dass der Beitritt der verschiedenen deutschen Währungsgebiete sich bis 1876 hinzog.
Ich möchte mit dieser Kritik nicht den Eindruck hervorrufen, dass das Buch ein Sammelsurium von Fehlern und Ungenauigkeiten sei, doch letztere durchziehen den Text, der den Eindruck hinterlässt, als habe er kein fachkundiges kritisches Lektorat erhalten. Daher ist mein Gesamteindruck ambivalent: Einem gut vorgebildeten Leser liefert die Lektüre viele interessante Anregungen, doch für die studentische "Seminar- und Examensvorbereitung" (Buchrücken) ist das Buch wegen der genannten Mängel aus meiner Sicht nicht geeignet. Dieter Zieglers "Industrielle Revolution" hingegen wäre gut für diesen Zweck geeignet, fehlte ihm nicht der für eine vertiefte selbstständige Lektüre unbedingt notwendige wissenschaftliche Apparat.
Alfred Reckendrees