Philippe de Vigneulles / Waltraud Schuh / Monika Schlinkmann (Hgg.): Das Journal des Philippe de Vigneulles. Aufzeichnungen eines Metzer Bürgers (1471 - 1522), 2. überarb. Aufl., Saarbrücken: Conte-Verlag 2005, 340 S., ISBN 978-3-936950-16-8, EUR 29,90
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Alle autobiografischen Dokumente des Spätmittelalters besitzen ihren eigenen Wert, und je mehr uns davon zur Verfügung stehen, desto mehr versetzen sie uns in die Lage, individuelle Perspektiven über bestimmte Zeiten, Ereignisse, Bedingungen, Ideen, Vorstellungen und Meinungen zu gewinnen. Deswegen verdient das Journal des Philippe de Vigneulles, nun in deutscher Übersetzung vorgelegt, unsere besondere Aufmerksamkeit, denn dieser Autor liefert eine Menge anekdotischer Berichte über sein eigenes Leben und die Situation in seiner Heimatstadt Metz. Als Fünfzehnjähriger war er von zu Hause weggelaufen und gelangte bis nach Neapel, aber nach seiner Rückkehr wurde er zusammen mit seinem Vater gefangen genommen und für ein Jahr unter schlimmen Bedingungen festgehalten. Später erlernte er das Handwerk des Tuch- und Strumpfwirkens und schuf sich damit letztlich eine wohlhabende Existenz als Metzer Kaufmann. Das Journal folgt in detaillierter Weise seinem eigenen Leben, aber umfangreich ergänzt mit Informationen über die alltäglichen Ereignisse in der Stadt und in der Region, über Wetterverhältnisse, Katastrophen, politische Konflikte, Hinrichtungen, Hungersnöte und religiöse Feste. Außerdem geht Philippe auch auf Reichs- und internationale Politik ein, soweit sie ihn persönlich interessierte. Es handelt sich eben um ein persönliches Journal, aber auch dieses besitzt für uns aus kultur-, religionshistorischer und individualgeschichtlicher Sicht große Bedeutung.
1852 hatte bereits Heinrich Michelant den Text in der Reihe "Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart" herausgegeben, der 1968 im Verlag Editions Rodopi (Amsterdam) photomechanisch nachgedruckt wurde. 1978 übersetzten Waldtraud und Eduard Schuh das Journal ins Deutsche, weil die Erstere herausgefunden hatte, dass Philippe zu ihren Vorfahren gehört hatte. Seitdem hat deren Tochter Monika Schlinkmann die Arbeit ihrer Eltern redaktionell behandelt und sie in den Druck gebracht.
Abgesehen von einem sehr kurzen Abdruck des Originaltextes im Anhang steht uns leider keine Möglichkeit zur Verfügung, die Qualität der Übersetzung im Einzelnen zu überprüfen. Dieser Abdruck, hier als "eine kleine Kostprobe aus dem von Michelant edierten Text" (344) bezeichnet, hätte wirklich um einiges umfangreicher ausfallen können, handelt es sich ja nur um zwei sehr kurze, nur eine halbe Seite umfassende Paragrafen. Die Absicht besteht nur darin, knapp den vom Autor benutzten Metzer Dialekt vor Augen zu führen, aber es fehlt wirklich jegliche textkritische Analyse, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Der Text in seiner deutschen Fassung ist für den modernen Leser aufbereitet worden, indem überall neue Kapitelgliederungen und Paragrafen eingeführt wurden.
Der wissenschaftliche Apparat verdient leider kaum der Erwähnung, während das Nachwort immerhin einen gewissen historischen Rahmen entwirft. Wünschenswert wäre auch eine bessere kultur- und literarhistorische Kontextualisierung gewesen, aber es handelt sich wirklich um kaum etwas anderes als eine Übersetzung, die aufgrund persönlicher Interessen entstand, darüber hinaus aber durchaus breitere Bedeutung besitzt, denn sie macht einen für das Spätmittelalter wichtigen Text deutschsprachigen Lesern verfügbar. Leider fehlt ein Index, was uns zwingt, uns allein auf das Inhaltsverzeichnis zu verlassen. Dort heißt es zwar, dass der Autor auf eine "erste" Pilgerfahrt gegangen sei, von der Zweiten wird aber nicht gesprochen. Im Nachwort wird zwar Philippes Biografie kurz umrissen, aber von den Pilgerfahrten ist auch dort nicht die Rede. Völlig unangemessen wirken einleitende Bemerkungen über die vom Autor beobachteten Wetterkatastrophen, die angeblich die heutige Bedrohung durch die Treibhausgase relativieren sollen. Aber darüber kann man hinwegsehen und sich dem eigentlichen Text zuwenden, der umfangreich und sehr informativ gestaltet ist und gerade wegen seines biografisch-anekdotischen Charakters wichtige Erkenntnisse zur Mentalitäts- und Alltagsgeschichte vermittelt.
Trotz aller philologischen Kritik nimmt man diesen Band gerne in die Hand, denn damit liegt uns in guter neuhochdeutscher Übersetzung ein wichtiges autobiografisches Zeugnis des Spätmittelalters vor, das wichtige Aussagen über die persönlichen Erfahrungen und das Leben eines Metzer Bürgers enthält.
Albrecht Classen