Irmgard Zündorf: Der Preis der Marktwirtschaft. Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Beiheft 186), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 332 S., 11 Abb., 6 Tab., ISBN 978-3-515-08861-9, EUR 62,00
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Die vorliegende Arbeit ist als Teil eines am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam abgeschlossenen Projekts zum Thema "Preisbildung und Lebensstandard in Deutschland unter den Bedingungen von Diktatur und Demokratie: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik in vergleichender Perspektive" entstanden. Das Forschungsprojekt ging von der These aus, dass der Lebensstandard der Bevölkerung bei der Etablierung der politischen Systeme eine besondere Legitimationsfunktion innehatte. [1] Neben dem Einkommen bilden die Verbraucherpreise die zweite wichtige Säule des kaufkraftabhängigen Lebensstandards. In den Beiheften der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind nun sukzessive die Dissertationen von Jennifer Schevardo zur DDR sowie von Irmgard Zündorf zur Bundesrepublik erschienen.
Irmgard Zündorf analysiert Motive, Akteure und Ergebnisse der staatlichen Preispolitik und ihren Einfluss auf den Lebensstandard in der Konstitutionsphase der Sozialen Marktwirtschaft, in der Zeit Ludwig Erhards als Wirtschaftsminister. Trotz der Einführung marktwirtschaftlicher Grundsätze in der Bundesrepublik unterlag ein Teil der Verbraucherpreise in den Fünfzigerjahren der staatlichen Administration und wirkte sich somit auf den Lebensstandard der Bevölkerung aus.
Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst werden die wirtschaftliche, politische und rechtliche Ausgangssituation der unmittelbaren Nachkriegszeit und die theoretische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft dargelegt. Im Anschluss daran werden in chronologischer Abfolge einerseits Preisentwicklung und die allgemeine Preispolitik sowie andererseits die spezielle Preispolitik in den Bereichen Mieten, Verkehr und Nahrungsmittel abgehandelt. Zu diesem Zweck werden vier Phasen der Preispolitik unterschieden: Der erste Zeitabschnitt umfasst die Jahre 1948 bis 1952 als "Bewährungsprobe der Sozialen Marktwirtschaft", die sich durch stark schwankende Preise auszeichnete und durch die beiden bedeutenden Ereignisse Währungsreform und Koreakrise geprägt war. Ruhiger verlief die Preisentwicklung, nicht jedoch die preispolitische Diskussion in der zweiten Phase von 1952 bis 1955. Zwischen 1955 und 1958 kam es zu Preiserhöhungen, aber die Preispolitik stand im Schatten der Konjunkturpolitik. Im letzten Zeitabschnitt zwischen 1958 und 1963 verlor die staatliche Preispolitik mit wachsendem Wohlstand ihre allgemeine wirtschaftspolitische Bedeutung.
Mit dem Preisgesetz vom April 1948 erhielt Ludwig Erhard die alleinige Zuständigkeit über die Verbraucherpreise, die er auch als Bundeswirtschaftsminister weiterhin innehatte. Im Leitsätzegesetz vom Juni 1948, das Erhard durchsetzen konnte, wurde der Vorrang der freien Preisbildung gegenüber staatlich administrierten Preisen festgeschrieben. Allerdings blieben die Preise von knappen Gütern des Grundbedarfs weiterhin gebunden, wenn kein ausreichendes Angebot durch den Markt geschaffen werden konnte. Die Preispolitik stand demnach zu Anfang der Sozialen Marktwirtschaft im Dienste der Aufrechterhaltung des Lebensstandards, da es bei einer Freigabe vor allem der Lebensmittelpreise, der Mieten und auch der Verkehrstarife durch das knappe Angebot in diesen Bereichen zu erheblichen Preiserhöhungen gekommen wäre. Zudem waren die Löhne nach der Währungsreform ebenfalls noch sehr niedrig. Das Preisniveau konnte jedoch trotz der staatlich festgesetzten niedrigen Preise des Grundbedarfs nicht stabil gehalten werden. Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 und zu Beginn des Koreakrieges kam es zu inflationären Tendenzen, die die Bevölkerung beunruhigten und Unzufriedenheit auslösten. Vom Wirtschaftsministerium wurden deshalb verschiedene zusätzliche preispolitische Maßnahmen, wie das Jedermann Programm oder der Preisspiegel, eingeleitet. Diese Initiativen wirkten sich realwirtschaftlich kaum aus, hatten aber einen starken symbolischen Charakter, wie dies auch von der Politik beabsichtigt war. Diese Strategie der Erhardschen Preispolitik durchzog die gesamten Fünfzigerjahre.
Bereits zwischen 1952 und 1955 erhöhten sich die Löhne stärker als das Preisniveau, sodass die Bedeutung der Preise für den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung an Gewicht abnahm. Politisch jedoch trat ein solcher Bedeutungsverlust für die Verbraucher nicht ein. Die Bevölkerung und in der Folge auch der Kanzler forderten eine aktive Preispolitik. Erhards bevorzugte preispolitische Initiative waren Maßhalteappelle, bei denen Arbeitgeber und -nehmer sowie auch die Konsumenten angehalten wurden, ihre Interessen den wirtschaftspolitischen Zielen anzupassen. Je nach Gruppe bedeutete das: kein übertriebenes Gewinnstreben, zurückhaltende Lohnforderungen und preisbewusstes Verhalten. Mit fortschreitendem Wirtschaftswachstum blieben jedoch diese Appelle zunehmend ungehört, sodass seit Mitte der Fünfzigerjahre sowohl Löhne als auch Preise deutlich anzogen.
In ihrer Analyse der speziellen Preispolitik zeigt Irmgard Zündorf, dass die staatliche Preisadministration nach der Währungsreform durch das knappe Angebot bei den Grundbedarfsgütern begründet war. Dieses Versorgungsargument trat jedoch vor dem Hintergrund steigenden Wohlstands im Laufe der Fünfzigerjahre zurück, und die Preisbewirtschaftung wurde zunehmend durch verschiedene Partikularinteressen bestimmt. Da die Wohnungswirtschaft nach dem Krieg nicht in der Lage war, in angemessener Zeit den benötigten Wohnraum bereitzustellen, herrschte politischer Konsens über die Fortführung der Mietpreisbindung. Mit steigendem Wohnungsangebot erhöhte sich die Macht der Hausbesitzer. Anfang der Sechzigerjahre wurden die Mietbindungen abgebaut, wobei die Bindung bei den frei finanzierten Neubauten bereits in den Fünfzigerjahren völlig fallen gelassen wurde. Obwohl die Aufwendungen für den öffentlichen Verkehr im Haushaltsbudget der Verbraucher nur einen sehr kleinen Anteil ausmachten und die Bahn gleichzeitig Defizite akkumulierte, wollte man die Tarife für Berufspendler und Schüler möglichst niedrig halten, sodass auch in diesem Bereich möglichst breite Bevölkerungsgruppen subventioniert wurden.
Die Landwirtschaft nahm wegen der Erfahrungen des Hungers in den Nachkriegsjahren und auf Grund der nach wie vor herrschenden Bauerntumsideologie einen besonderen gesellschaftlichen Stellenwert ein. Die Preise sollten hoch sein, um den Bauern Produktionsanreize zu bieten und ihnen ein sicheres Auskommen zu gewährleisten. Zur preiswerten Versorgung der Bevölkerung sollten die Preise aber gleichzeitig niedrig sein. Die Verbraucherpreise von Nahrungsmitteln wurden sukzessive liberalisiert, während die Erzeugerpreise weiterhin administrativ festgesetzt wurden. Die landwirtschaftlichen Betriebe wurden staatlich unterstützt und vor ausländischer Konkurrenz geschützt, wenngleich die Erzeugerpreise verhältnismäßig niedrig waren. Mit sinkenden Weltmarktpreisen nach 1952 entwickelte sich deshalb die Preispolitik im Agrarbereich vom Konsumenten- zum Produzentenschutz.
Irmgard Zündorf zeigt anschaulich, dass die Preisstabilität im Bewusstsein der Bevölkerung eine bedeutende Rolle einnahm und man marktwirtschaftlichen Grundsätzen bei der Preisregulierung zunächst misstraute. Außerdem zeichnet sie die spezifischen, unterschiedlichen Interessen der verschiedenen wirtschaftspolitischen Akteure in überzeugender Weise nach. Insgesamt hat Irmgard Zündorf eine informationsreiche Untersuchung vorgelegt, die wichtige Erkenntnisse zur Wirtschafts- und Konsumgeschichte der Bundesrepublik liefert.
Anmerkung:
[1] André Steiner: Preispolitik im Vergleich: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 26/27 (2002), 20-33.
Andrea Wagner