Philip Yale Nicholson: Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA. Mit einem Vorwort von Michael Sommer, aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Berlin: vorwärts buch 2006, 415 S., ISBN 978-3-86602-980-4, EUR 38,00
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Die Mitgliedschaft in amerikanischen Gewerkschaften ist während der vergangenen 50 Jahre kontinuierlich geschrumpft. Waren 1960 37% und 1983 20,1% der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, sind es heute gerade einmal noch 12,5% (zum Vergleich: Deutschland 2006, 20%). Um das Ansehen der Gewerkschaften in der Gesellschaft und ihren Einfluss bei Arbeitskämpfen und auf die Politik ist es kaum besser bestellt. Diese Entwicklung zu verstehen ist das erkenntnisleitende Interesse von Philip Yale Nicholsons Buch "Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA", in dem er nach den historischen Gründen für das Fehlen einer amerikanischen Arbeiterpartei und der Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung fragt.
Dieser Frage geht Nicholson in zehn Kapiteln für jede Epoche der amerikanischen Geschichte von der kolonialen Zeit bis zur Gegenwart nach und schließt mit einem Ausblick auf die Zukunft. Als eher ungewöhnlich mag der deutsche Leser, für den Arbeitergeschichte gleichbedeutend mit Industrialisierung und sozialer Frage ist, empfinden, dass das Buch bereits mit der Frühen Neuzeit einsetzt. Für Nicholson - wie allgemein für die amerikanische labor history - beginnt Arbeitergeschichte jedoch nicht mit dem Industrieproletariat, sondern bereits in kolonialer Zeit mit dem Export europäischer Vorstellungen hinsichtlich der Organisation von Gesellschaft und Arbeit und der Einführung der Sklaverei. In der Epoche der Amerikanischen Revolution entdeckt er auch die ideologischen Ursprünge der späteren Arbeiterbewegung. Wie der Autor im Laufe der Untersuchung zeigt, waren das radikaldemokratische Gedankengut Thomas Jeffersons und Thomas Paines wesentlich wichtiger für die amerikanischen Arbeiter als die Schriften von Karl Marx oder der utopischen Sozialisten. Nicholson findet die Wurzeln sowohl für das Entstehen einer Arbeiterbewegung als auch für die Hindernisse, die sich dieser Bewegung in den folgenden Jahrhunderten stellen sollten, bereits in der Formationsepoche der Vereinigten Staaten.
Wenn sich in den USA auch keine dauerhaft erfolgreiche Arbeitpartei entwickelt hat, darf dies dennoch nicht als Indiz für die Bedeutungslosigkeit der amerikanischen Arbeiterbewegung gewertet werden wie Nicholson zu zeigen vermag. Vielmehr überrascht wie früh sich im Vergleich mit Europa Gewerkschaften organisierten. Bereits 1836 gab es etwa 300.000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter - ein Anteil, der prozentual erst wieder in der Ära des New Deal erreicht wurde. Ebenso erlaubten die demokratischen Strukturen der USA viel früher die Wahl von Vertretern der Arbeiterschaft in kommunale, staatliche und nationale Repräsentativorgane: 1829 wählte die Workingmens' Party von New York den Vorsitzenden der Zimmerergewerkschaft in den Stadtrat, 1836 wurde der erste direkte Vertreter der Arbeiterschaft ins Repräsentantenhaus gewählt.
Interessant sind zwei Ausgangsthesen, die Nicholson im Laufe der Darstellung durch verschiedene Beispiele untermauert. Zum einen ist er der Auffassung, dass sich die Arbeiterbewegung in den USA immer nur dann organisieren konnte, wenn dies auch im Interesse des Kapitals war. Zum anderen räumt er dem Staat - im positiven wie negativen Sinn - eine viel größere Bedeutung für das Schicksal der Arbeiterbewegung ein, als bislang üblich. Tatsächlich ist die Vorstellung eines liberalen Nachtwächterstaates unhaltbar. Wie Nicholson durch zahlreiche Beispiele demonstriert, griffen die Regierungen der Einzelstaaten und des Bundes bereits lange vor dem New Deal in vielfältiger Weise in den Arbeitsmarkt ein, sei es durch eine unternehmerfreundliche Gesetzgebung, sei es durch den direkten Einsatz von Militär und Schusswaffen zur Aufhebung von Streiks.
Den Höhepunkt der organisierten Arbeiterbewegung sieht Nicholson, anders als andere Darstellungen, nicht erst in der Zeit des New Deal, sondern bereits in der "Progressive Era" vor dem Ersten Weltkrieg. Mit dem Ende der Ära Roosevelt beginnt für ihn dann ein fortwährender Prozess der Rücknahme arbeiter- und gewerkschaftsfreundlicher Gesetze. Als wichtigen Faktor für den Niedergang der Gewerkschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet Nicholson deren engen, unkritischen Anschluss an die Regierung, unabhängig davon, ob diese gerade von Demokraten oder Republikanern gestellt wurde.
Zu bemängeln ist, dass sich die Darstellung über weite Teile hinweg wie ein ausformulierter "Ploetz" liest. Unzählige Namen von Gewerkschaftsführern, Streiks, Gesetze, Gewerkschaftsgründungen und -spaltungen reiht Nicholson aneinander, ohne die dahinter wirksamen Tendenzen klar herauszuarbeiten. Quellen, illustrative Beispiele und Grafiken kommen kaum zur Anwendung, sodass es der Darstellung an Anschaulichkeit mangelt.
Anders als in der Einleitung ankündigt, geht Nicholson nur selten über die klassische Gewerkschaftsgeschichte hinaus. Ebenso sucht der Leser die versprochene Anknüpfung an Erkenntnisse der cultural studies und der modernen Arbeitergeschichte größtenteils vergeblich. Nicholson steht damit weitgehend in der Tradition der klassischen, Institutionen fokussierten amerikanischen Arbeitergeschichte, die mit Philip Foners achtbändiger "History of the Labor Movement in the United States" ein Mammutwerk ihres Genres vorgelegt hat. [1] Wie Foner bezieht Nicholson auch andere Emanzipationsbewegungen wie die der Afroamerikaner und Frauen ganz selbstverständlich in seine Darstellung mit ein. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer großen sozialen Bewegung, deren Avantgarde Arbeiter und Gewerkschaften bildeten. Tatsächlich jedoch operierten die genannten Bewegungen nur in seltenen Ausnahmefällen gemeinsam. Die Gewerkschaften, deren Rassismus Nicholson nicht verschweigt, verstanden sich fast alle bis tief ins 20. Jahrhundert hinein primär als Organisationen weißer arbeitender Männer. Damit stellt sich die Frage, wie berechtigt eine solche Zusammenschau unterschiedlicher Emanzipationsbewegungen tatsächlich ist.
Kurz: Mit seiner Überblicksdarstellung schließt Nicholson zweifellos eine Lücke und liefert eine brauchbare Einführung in die Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung. Neue Ansätze der Arbeitergeschichtsschreibung ignoriert er dabei jedoch weitgehend.
Anmerkung:
[1] Philip S. Foner: History of the Labor Movement in the United States, 8 Bde., New York 1947-88.
Tobias Becker