Jacqueline de Romilly: L'invention de l'histoire politique chez Thucydide. Préface de Monique Trédé (= Études de Littérature Ancienne; 15), Paris: Éditions Rue d'Ulm 2005, 272 S., ISBN 978-2-7288-0351-4, EUR 20,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lawrence A. Tritle: A New History of the Peloponnesian War, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2010
Antonios Rengakos / Antonis Tsakmakis (eds.): Brill's Companion to Thucydides, Leiden / Boston: Brill 2006
H. A. Shapiro (ed.): The Cambridge Companion to Archaic Greece, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Das Werk des Thukydides zählt zu den Schwerpunkten der Forschungen der 1988 als erste Frau an die Académie française berufenen Jacqueline de Romilly. Ihre Stellungnahmen zu unterschiedlichen Aspekten und Ansätzen moderner Untersuchungen zu Thukydides stellen geradezu ein Stück Wissenschaftsgeschichte dar. Der vorliegende Band enthält wesentliche Ergebnisse ihrer Thukydides-Interpretationen und ist thematisch in zwei Abschnitte gegliedert, die sich mit der Geschichtsschreibung im engeren Sinne und mit dem politischen Denken des Historikers befassen.
Im ersten Beitrag der insgesamt 19 Aufsätze steht verständlicherweise das Methodenkapitel im Mittelpunkt (Thukydides 1,22), das de Romilly unter dem Aspekt des "Nutzens der Geschichtsschreibung" in der Sicht des Thukydides erörtert (15-30). Sie warnt davor, Ereignisabläufe und machtpolitische Konstellationen in ferner Vergangenheit als Modellfälle für gegenwärtiges Geschehen zu werten. Zweifellos kann die Alte Geschichte kein praktisches Lehrbuch der Politik sein, wenn in der Gegenwart Entscheidungen zu fällen sind, die unter Umständen globale Bedeutung gewinnen können. Mit dem Methodenkapitel thematisch eng verbunden ist das Problem der Objektivität des Thukydides. Die Verfasserin führt hierzu im zweiten Aufsatz aus (31-40), dass antike Historiker vielfach über Ereignisse in ihrer selbst erlebten Gegenwart oder in nicht allzu ferner Vergangenheit berichten und hierbei Gefahr laufen, das Geschehen nicht objektiv darzustellen.
In den beiden nächsten Beiträgen, die vom Fortschrittsglauben in der Zeit des Thukydides (41-78) und von nicht eingetroffenen Erwartungen handeln (79-88), lenkt die Verfasserin das Interesse des Lesers immer wieder auf das berühmte abschließende Urteil des Historikers (2,65) über Perikles und dessen Nachfolger. Sie sieht in den betreffenden Ausführungen ein Paradoxon, indem sie betont, dass der Krieg zwar mit einem Desaster für Athen endete, aber Perikles' Hoffnung auf einen Sieg durchaus begründet war und nur deshalb sich nicht erfüllte, weil die Athener später den Krieg ausweiteten. Es fragt sich allerdings, ob Perikles vor 431 das richtige außenpolitische Konzept verfolgte und nach Kriegsbeginn tatsächlich eine Erfolg versprechende Strategie zu entwickeln vermochte.
Die Ausführungen des Thukydides 2,65 erörtert die Verfasserin auch in einigen weiteren Kapiteln im zweiten Teil des Buches (133-146; 197-210). Sie wiederholt mehrfach, dass Thukydides' negatives Urteil (2,65,8-11) über die Nachfolger des Perikles durch den späteren Kriegsverlauf bestätigt werde. Allerdings sagt Thukydides (2,65,11) auch, dass die Sizilische Expedition der Athener, das Paradebeispiel für den Beginn eines athenischen Mehrfrontenkrieges, "im Plan nicht falsch war". Vielmehr hätten die Athener ihre Streitmacht in Sizilien nicht hinreichend unterstützt. De Romilly räumt aber ein (200), dass Thukydides 2,65 nicht alle Gründe für die Niederlage Athens 404 v. Chr. anführt. Zu beachten ist freilich auch, dass rivalisierende Meinungsführer nach dem Tod des Perikles in einer kritischen Phase des Krieges vor einer Fülle von Aufgaben standen, ohne die Autorität eines Perikles zu besitzen.
Der eigentliche Initiator der Sizilischen Expedition war bekanntlich Alkibiades, dessen Rede für die Durchführung der großen militärischen Operation im Westen nach Thukydides (6,16-18) letztlich ausschlaggebend für den Beschluss der athenischen Volksversammlung war, in Sizilien 415 zu intervenieren. De Romilly interpretiert aus dieser Rede in einem eigenen Kapitel (147-156) die Worte des Sprechers, dass gerade die Mischung aus jungen und alten Bürgern bei der Entscheidungsfindung eine Stärke der athenischen Demokratie sei (Thukydides 6,18,6). Sie wertet dies als Einfluss medizinischer und naturwissenschaftlicher Lehren auf Thukydides und beruft sich unter anderem auf die Theorie des Alkmaion vom Gleichgewicht (Isonomia) der Kräfte im Körper als Zeichen der Gesundheit (152). Zweifellos sind diese Ausführungen des Thukydides noch keine Vorform einer Theorie von den Vorzügen einer Mischverfassung. Thukydides hebt hier die Bedeutung eines Interessenausgleichs der abstimmungsberechtigten Bürger aller Altersgruppen hervor. Zum Verständnis der Alkibiadesrede ist aber die dort propagierte Präventivkriegstheorie zweifellos wichtiger.
Das thematische Spektrum der Essays in diesem Buch ist sehr viel breiter als die in dieser Rezension bereits angesprochenen Probleme. Erwähnt seien etwa noch die Überlegungen der Verfasserin zu den ökonomischen Faktoren im Werk des Thukydides (109-114), ihre Interpretation der von Thukydides (4,17-20) stilisierten Rede der Spartaner in Athen während der Waffenruhe in den Kämpfen um Pylos (89-94), ferner ihr Versuch einer Analyse der Zielvorstellungen des Spartanerkönigs Archidamos vor Beginn des Peloponnesischen Krieges (211-221) sowie ihre Deutung der Propagandaparolen im Verlauf des Krieges (157-165). Bemerkenswert ist schließlich auch ein Artikel über das Problem der Furcht in der Darstellung politischer Entscheidungsfindungen bei Thukydides (223-229). Die Verfasserin kommt hier zu dem Schluss, dass Thukydides eine Welt beschreibe, in der ein Kampf aller gegen alle stattgefunden habe und jedes Gemeinwesen bestrebt gewesen sei, seine eigene Sicherheit durch Gewinn einer größtmöglichen Macht zu erreichen. Insofern sei diese Welt dem von Hobbes beschriebenen "Naturzustand" ähnlich gewesen. Eine derartige Generalisierung lässt sich indes kaum begründen. Von den über 1.000 Poleis konnten nur wenige aufgrund ihrer Bürgerzahl eine eigenständige Machtpolitik verfolgen.
Fazit: Die Lektüre dieser Aufsatzsammlung ist überaus anregend. Mehrfach fordern Thesen der Verfasserin aber auch Widerspruch heraus.
Karl-Wilhelm Welwei