Rezension über:

Michael F. Zimmermann: Industrialisierung der Phantasie. Der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste 1875-1900 (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 127), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, 424 S., 36 Farb-, 226 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06453-9, EUR 98,00
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Rezension von:
Alexander Auf der Heyde
Scuola Normale Superiore, Pisa
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Auf der Heyde: Rezension von: Michael F. Zimmermann: Industrialisierung der Phantasie. Der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste 1875-1900, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/10144.html


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Michael F. Zimmermann: Industrialisierung der Phantasie

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"Industrialisierung der Phantasie", dies ist also der viel sagende Titel einer Studie zum Mediensystem der Künste im Italien der "Gründerzeit" (1875-1900). Im Zentrum des Interesses stehen illustrierte Zeitschriften wie "Illustrazione Italiana", deren (von Paola Pallottinos Studie aus dem Jahre 1988 einmal abgesehen) wenig erforschte Bilderwelt in ihrer künstlerischen, aber auch gesellschaftlichen Relevanz unter die Lupe genommen wird. Der Autor schildert eingehend die aufwändigen Verfahren der Bildproduktion, in denen heterogene Bildquellen - Malereien, Fotografien und Zeichnungen - manuell in Holzschnitte übertragen und galvanisiert werden. Die Verleger scheuen weder Kosten noch Mühen, um bisweilen auch prominente Ausstellungskünstler zur Mitarbeit zu gewinnen. Zeitungen und Periodika sind dem zu Folge kreative Werkstätten, in denen "hohe" Kunst und Kitsch problemlos zusammenleben. Die literaturwissenschaftlichen Studien zur Geschichte und Wirkung des Feuilletonromans haben dies bereits angemessen gewürdigt. Als Kunsthistoriker zieht Michael F. Zimmermann nach und wagt sich in das (vor allem in Deutschland) praktisch unbekannte Terrain Italiens im 19. Jahrhundert.

Zimmermann zu Folge ist die illustrierte Presse ein bislang wenig beachteter "Schmelztiegel der Bildsemantik" (10). Seine Arbeit verdeutlicht, dass durch die Mitarbeit namhafter Künstler die narrativen Strategien der zeitgenössischen Historienmalerei ihren Einzug in die Bildmedien des jungen Italien halten und dadurch die Sehgewohnheiten des Publikums bestimmen. Er verdeutlicht dieses von Wechselseitigkeit geprägte Verhältnis zwischen Malerei und trivialkünstlerischer Presseillustration durch eingehende Analysen und herrliche Bildbeschreibungen, die formelle Eigenschaften in Worte fassen, sowie mit angemessener Ironie Trivialitäten entblößen (man denke nur an eine der ersten Bildideen zu Domenico Morellis "Versuchung des Heiligen Antonius" von 1878, die Zimmermann als "epochentypisches Frikassee aus Akten" bezeichnet, 197). In Anlehnung an Antonio Gramscis Reflexionen zur Kulturindustrie im jungen italienischen Nationalstaat stellt sich allerdings die Frage nach dem Publikum, das - so Zimmermann - durch Bilder und Medien erst konstruiert werden muss. Mit ausführlichen (manchmal etwas zu lang geratenen) Darstellungen geht er auf die gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen ein, mit denen die Leser der "Illustrazione Italiana" genauso wie die Besucher der großen Kunstausstellungen in Turin, Venedig, Rom und Mailand konfrontiert werden. Verschiedene Diskursstränge - der historische bzw. mentalitätsgeschichtliche Hintergrund und die kunsthistorische Analyse einzelner Ausstellungsbilder - werden dabei vorsichtig miteinander verknüpft, weil sie, so Zimmermann, auf einer rein "strukturellen Ebene" zusammenstimmen. Allerdings vermeidet er es ganz bewusst, "die Kausalitätsformen einer obsolet gewordenen Sozialgeschichte zu beschwören" (17).

Giovanni Segantinis "Le cattive madri" (1894) und "Il nirvana delle lussuriose" (1891) werden als "symbolistisches" Geistesprodukt häufig einseitig auf literarische Quellen zurückgeführt. Der Autor greift einen Ansatz von Daniela Hammer-Tugendhat (1985) auf und zeigt anhand des Frauenbildes in Presse und populärwissenschaftlicher Literatur, dass diese Darstellungen "verfehlter Weiblichkeit" trotz aller intentionalen Doppeldeutigkeit, wenn auch "in sublimierter Form" (141), durchaus soziale Fragen (Abtreibung, Kindsmord, Findelhäuser) reflektieren.

Die ersten Jahrzehnte des vereinten Königreiches sind durch einen bis zu den Lateranischen Verträgen andauernden Kulturkampf zwischen der aufgeklärten Elite des neuen laizistischen Staates und einem in die Defensive geratenen, stark geschrumpften Kirchenstaat geprägt. In Domenico Morellis Gemälden wird Religion (ähnlich wie bei Renan) "mit den Augen eines Orientalisten gesehen, oder, anders gesagt, die religiöse Imagination, mit den Augen eines Neurologen betrachtet" (191). Die Bibel wird an der Bildtradition vorbei als orientalistische Vision in Szene gesetzt, andererseits findet in Morellis (aber auch Pellizzas und Michettis) säkularisierten Madonnendarstellungen durch Rekurs auf traditionelle Motive eine "Rückkehr der verdrängten Religion" (147) statt.

Armut und Misere, werden in der "Illustrazione Italiana" eher selten, wenn überhaupt dann in Form von reproduzierten Kunstwerken abgebildet. Im Gegensatz dazu gibt es ganze Bildserien zu Streiks und Aufständen. Zimmermann interpretiert diese als "Rituale der Furchtbannung" durch ein bürgerliches Publikum, das auf Grund seiner Ängste vor revolutionären Umstürzen zum Komplizen der militärischen Unterdrücker wird. Giuseppe Pellizza da Volpedos erste Skizzen zu "Il quarto Stato" entsprechen in ihrer dramatischen Verdichtung den Darstellungskonventionen der illustrierten Presse (262), später werden diese Ideen in einem aufwändigen Werkprozess im Sinne der klassischen Historienmalerei veredelt. Anhand der Leonardo-Rezeption bei Pellizza zeigt der Autor, dass ein Maler des 19. Jahrhunderts trotz aller positiven Studien zur Optik keinesfalls auf vergewissernde Rückblicke auf historische Vorbilder verzichten will.

Die ambivalente, zwischen Faszination und Ekel schwankende Position der Leser von "Illustrazione Italiana" wird besonders deutlich an der kritischen Rezeption von Francesco Paolo Michettis sinnlichen Visionen eines rückständigen Süden und seiner religiösen Traditionen. Zimmermann liefert einen hoch interessanten Exkurs zur Erwerbungs- und Rezeptionsgeschichte von Michetti, dessen "Corpus Domini-Fest in den Abruzzen" bereits seit 1891 in den kaiserlichen Sammlungen vertreten war. Fünfzehn Jahre später gelangt das Gemälde "La Figlia di Jorio" durch Schenkung an die Berliner Nationalgalerie, allerdings scheint es sich hierbei um einen diplomatischen Schachzug Hugo von Tschudis zu handeln, denn Michettis Bild scheint anderen offiziell wenig geliebten Künstlern (Courbet, Manet, Renoir) die Pforten des Museums geöffnet zu haben.

Zimmermanns Interesse gilt vor allem Michettis monumentalen Arbeiten, deren skizzenhafte Ausführung in Tempera auf wenig Verständnis bei der zeitgenössischen Kunstkritik (Vittorio Pica) stoßen. Er interpretiert diese Arbeiten als "proto-kinematographische Kompositionen, [...] die für die kulturelle Selbstfindung der Nation bedeutungsvoll waren" (312). Allerdings beschränkt er sich auf die Andeutung technischer Analogien zwischen Malerei und Film, während er dem für diesen Künstler extrem wichtigen Medium der Fotografie nur geringe Aufmerksamkeit widmet.

Im Falle der Mailänder "Galleria" betont er - meines Erachtens zu sehr - die Rückständigkeit einer ehemaligen Residenzstadt gegenüber anderen kosmopolitischen Metropolen. Ob gerade in Mailand dieser europäische Lebensstil noch so fremd war, bleibt fraglich. Schließlich war die Stadt bereits zu Zeiten des Königreiches Lombardo-Venetien ein wichtiges Wirtschaftszentrum im Habsburgerreich. Zimmermanns These, dass durch Medien und neue Bautypen "semantische Monumente" gesetzt werden, trifft grundsätzlich zu, allerdings für die neapolitanische Variante der Galleria (1887-90). In diesem Fall wurde nämlich das Mailänder Modell nach Süditalien verpflanzt, demnach ein bürgerlicher Lebensstil inszeniert, der in starkem Kontrast zur gesellschaftlichen Realität stand.

Weitere Kritikpunkte betreffen die Bibliografie, der eine alphabetisch angeordnete Literaturliste (weil einfacher zu handhaben) vorzuziehen wäre. Außerdem sind die Zitate der zeitgenössischen Rezensenten häufig zu lang geraten. Eine (absolut notwendige) italienische Übersetzung des Textes könnte sich auf die wichtigsten Textstellen beschränken und dem Leser allzu lange Zitate ersparen.

Jedenfalls siegt am Ende trotz aller noblen Intentionen die "hohe" Kunst der Malerei und der Autor zeigt durch eindringliche Darstellungen zu Genese, gesellschaftlichem Kontext und Rezeption einiger "Meisterwerke", dass er in seiner Arbeit genuin kunsthistorisch argumentiert. Dass seine Studie als Forschungsprojekt über den Divisionismus begann, ergibt sich aus den oben erwähnten Bildanalysen. Neben vielen darin enthaltenen Einzelbeobachtungen besteht Zimmermanns Verdienst vor allem darin, deutlich gemacht zu haben, dass die Darstellungsweisen der illustrierten Presse und somit die Sehgewohnheiten des bürgerlich-liberalen Publikums sehr lange von der Tradition der naturalistischen Malerei geprägt sind. Mit ihrem Verschwinden von den großen Ausstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird, so der Autor, die Kunst zunehmend zum elitären Nischenprodukt und dem zu Folge in Fachzeitschriften verdrängt. Neue Bildmedien geraten in ihren Bannkreis und die bereits angekündigte Studie über das Konkurrenzverhalten zwischen Film und Malerei im italienischen Futurismus dürfte daran anschließend ebenso fundierte Ergebnisse liefern.

Alexander Auf der Heyde