Benjamin Marschke: Absolutely Pietist. Patronage, Factionalism, and State-Building in the Early Eighteenth-Century Prussian Army Chaplaincy (= Hallesche Forschungen; Bd. 16), Tübingen: Niemeyer 2005, VIII + 216 S., ISBN 978-3-484-84016-4, EUR 28,00
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Der vierte Band der großen "Geschichte des Pietismus" hat die Geschichte des Militärwesens ausdrücklich von einer Behandlung ausgeschlossen. Für eine Charakterisierung der "Bedeutung des Pietismus insgesamt" sei das Thema nicht aussagekräftig genug. [1] Benjamin Marschke freilich wertet den Gegenstand durchaus als beispielhaft für 'Aufstieg und Fall des Pietismus'. Die vorliegende, von Hartmut Lehmann betreute Dissertation beruht auf jahrelangen, gründlichen Quellenstudien und wurde von fünf amerikanischen und deutschen Institutionen gefördert (VII). Nun liegt sie in der inzwischen eingeführten, von Hartmut Lehmann mitherausgegebenen Reihe "Hallesche Forschungen" in sympathisch überschaubarem Umfang vor. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich um einen Sammelband früher erschienener Texte. In der Tat sind von 165 Textseiten, Kapitel 1 bis 6 (20-184) 64 Seiten, und zwar die Kapitel 1, 2 und 4 auch andernorts veröffentlicht - allerdings in deutscher Sprache und natürlich nicht wortgleich. Ohne die Übersetzung her und hin im Einzelnen nachgeprüft zu haben, leidet das Verständnis im Allgemeinen aber nicht darunter.
Den einschließlich der Einleitung insgesamt sieben großen Abschnitten folgt eine vielfach untergliederte "Bibliography" (185-216). Hier werden die handschriftliche Korrespondenz und die Archivalien verzeichnet sowie Quellen und Literatur nachgewiesen - in insgesamt immerhin 12 Abteilungen (mit gelegentlichen Doppelnennungen). Die sachliche Gliederung ist einerseits hilfreich für inhaltliche Weiterarbeit. Andererseits findet man kurzzitierte Literatur etwas schwieriger als in einem alphabetisch gelisteten Gesamtverzeichnis. Eine nochmalige Enddurchsicht des Verzeichnisses der gedruckten Quellen [2] hätte doch einige ins Auge springende Setzversehen vermeiden helfen. Ein Personenregister vermisst man bei einer derart personen-intensiven Arbeit schmerzlich.
Der Verfasser legt in der Einleitung gründlich Rechenschaft über den Forschungsstand, die Quellen, die Vorgehensweise sowie die Begrifflichkeit ab. Definitionskontroversen zum theologisch-frömmigkeitsgeschichtlichen Verständnis von "Pietismus" tangieren den Autor nicht (16). Drei große Blöcke halten die sechs Kapitel zusammen. Die Geschichte des Militärkirchenwesens von Friedrich III. (I.) bis Friedrich II. wird in einem Durchgang dargestellt. Dass die Phase Friedrich Wilhelms I. hier den größten Raum einnimmt, leuchtet ein. Mit statistischem Material wird man schon hier gut versorgt (25-36, hier 34). Und der Weg ging von ungeordneter Militärseelsorge hin zu einem straff zentralistisch durchorganisierten "state organ completely divorced from the civilian church" (38). Diese Entwicklung war nur möglich in der Zeit Friedrich Wilhelms I. Mit der Regierung Friedrichs II. kam dieses "best example(.) of the cooperation between the Prussian state and Halle Pietism" zu seinem Ende.
Damit ist der Rahmen alles Folgenden abgesteckt. Für die Detaildarstellung steht dem Verfasser umfangreiches handschriftliches Quellenmaterial zur Verfügung. Der Überblick über das konkrete Leben von Feldpredigern lässt tiefe Einblicke in den katastrophalen Bildungsstand unter Soldaten zu; entsprechend mühevoll war die Arbeit der Feldprediger. Auch die höchst unterschiedlichen sozialen Verhältnisse der Feldgeistlichen - mit sehr verschiedenen Folgen für ihre Aufgaben! - sind dargestellt (Kapitel 1 und 2).
Disziplinierung äußerer Art im Militärseelsorgewesen etablierte sich erst bei Friedrich II. In der Zeit des Pietismus legte man großen Wert auf den vorbildlichen Stand der Feldprediger selbst. Dem diente der entschlossen gegangene Weg einer Durchorganisierung des Militärkirchenwesens - ein effizientes Vorgehen, nicht frei von Konfliktpotential, wenn man nur an die Beanspruchung des Titels "Propst" denkt, samt den damit verbundenen Rechten. Prüfungs- und Auswahlwesen wurden - in Berlin! - gestrafft. Hier war zentralistisches Vorgehen schon wegen des ungeheuer weiten Wirkungsraumes von Betroffenen, vom Rheinland bis nach Litauen, nötig. Der Beitrag des Pietismus mit seinen verpflichtenden Standards bei der Auslese geeigneter Feldprediger jedenfalls ist höher zu veranschlagen als die staatlich zugänglichen Mittel. Lampert Gedicke spielte hier die entscheidende Rolle im "Pietist network" (Kap 3 und 4).
In einem lange Zeit nicht aufzubrechenden "patron-broker-client network" konnten nun über gut zwei Jahrzehnte, 1713-1727 (19), die Pietisten das Militärseelsorgewesen dominieren. Benjamin Marschke arbeitet auch hier innerhalb des Pietismus eine straffe Hierarchie heraus, mit August Hermann Francke und Carl Hildebrand von Canstein an der 'Spitze'. Nur waren dies alles nicht offizielle, aber doch immens wirksame Funktionen (155). Friedrich Wilhelm I. ermöglichte die Etablierung des pietistischen Einflusses, benutzte diesen aber wiederum zur Kontrolle seines Staates. Die Militärkirche muss als Schöpfung der Pietisten gelten. Sie hatten hier einen Bereich für ihre Interessen, der nur sehr schwach vom Herrscher überprüft oder kontrolliert wurde. Benjamin Marschke meint gar, hier war Friedrich Wilhelm I. "willing to delegate authority and control [...]." (184) (Kap. 5 und 6).
Man kann sich der Darstellung schwer entziehen. Sie ist hart an den Quellen gearbeitet, von erheblichem Zitatmaterial begleitet (längere deutsche Zitate werden übersetzt) und in den Schlussfolgerungen fernab von gewagten Konstruktionen. Das Patronagesystem auf dem Feld der Militärseelsorge scheint unabweisbar aufgezeigt! Dass dies eine typisch pietistische Schöpfung sei - "Absolutely Pietist [...]" - hat natürlich die Pietismusforschung aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen; in dieser Schärfe und Präzision war das bisher nicht erkennbar. Benjamin Marschke sieht das Verständnis für die sich hier zeigenden Vorgänge bei den Kirchenhistorikern durch einlinige Fixierung "on the spirituality of Pietism" verstellt. "The real-world functioning of Pietism" sei dadurch bislang zu wenig im Blick gewesen (118). [3]
Ein Vorwurf an die Pietismusforschung der letzten Jahrzehnte, sie sei blind für die nicht-religiösen Dimensionen des Pietismus, wäre freilich ungerecht. Benjamin Marschke konstatiert zwar, das Ergebnis der Forschungen von "church historians [...] neglects to place Pietism in its historical context." (3) Aber es liegen zu viele Untersuchungen nicht-theologischer Art vor. Und die Vernachlässigung Preußens in der Pietismusforschung verdankt sich durchaus einer ständigen Erweiterung auch des geographischen Rahmens der Untersuchungen. Im eingangs genannten vierten Band der "Geschichte des Pietismus" schreibt eine Mehrheit von Autoren aus nicht-theologischem Blickwinkel. [4] Inzwischen geht es um das Zusammenspiel, die Zusammenschau diverser Ansätze von "Pietismus"-Forschung! Jenes Zusammenspiel muss nicht an einer offenen Definitionsfrage dessen scheitern, was "Pietismus" sei und für welchen Zeitraum man von ihm reden dürfe, sofern jeweils konkret das Verständnis von Pietismus offengelegt wird. Benjamin Marschkes Untersuchungen jedenfalls bedeuten einen guten Beitrag zu dem gewichtigen Problem "Preußentum und Pietismus".
Das will freilich nicht heißen, dass die "spirituality of Pietism" (3) hier notwendig auf Dauer außen vor bleiben dürfte! Die religiös-theologischen Prägungen von Gesangbüchern, Katechismen für Soldaten, die theologischen Implikationen von "Sieges-Predigten", von Soldatenpredigten und vielem anderen mehr - das Quellenverzeichnis führt derer viele an! - bleiben konstitutive Arbeitsvorhaben der Pietismusforschung. Benjamin Marschke hat diese Saite seines Themas nicht zum Klingen gebracht. Die vorliegenden Studien haben aber - ich meine, in eindrucksvoller Weise - wieder einmal deutlich gemacht, dass man beim Pietismus daran zu denken hat, dass er auch als religiöse Frömmigkeits- und Reformbewegung in hohem Maße 'weltfähig' sein wollte und konnte, ja: 'weltfähig' sein musste. Wie anders hätte er seinem Grundanliegen der "Weltverwandlung durch Menschenverwandlung" [5] auch nur den Schimmer einer Hoffnung auf Verwirklichung bewahren können?
Anmerkungen:
[1] Hartmut Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten (= Geschichte des Pietismus; Bd. 4), Göttingen 2004, Seite V/VI; Hartmut Lehmann (für die Herausgeber): Vorwort. - Siehe auch Anmerkung 4.
[2] "Manuscripts" in der Überschrift auf Seite 194 gehört wohl auf Seite 190 in den Abschnitt "Sermons [...]", in dem zum Beispiel eine Einführungspredigt Christian Friedrich Kappeliers vom 1. Sonntag nach Trintitatis 1755 mit dem Vermerk "no publication information" verzeichnet ist. Die Fundortangabe "Spandovia Sacra, Signatur 4/2874, #2" ist unklar (unvollständig?).
[3] Vergleiche zum Problem theologischer Engführung in der Pietismusforschung Martin Gierl: "Im Netz der Theologen - Die Wiedergeburt der Geschichte findet nicht statt. Von Pietismusforschung, protestantischer Identität und historischer Ethik 2003/04", in: ZHF 32 (2005), 463-487 und die in http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-074 geführte Debatte zwischen Michael Kannenberg und Hedwig Richter anlässlich der Rezension Hedwig Richters über Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 2005.
[4] Dietrich Blaufuß: Rezension über "Geschichte des Pietismus" Bd. 4 (wie Anm. 1), in: ZBKG 75 (2006), 331-334, bes. 333 1. Spalte.
[5] Siehe dazu Dietrich Blaufuß: "Pietismus. Religiöse Reformbewegungen zwischen Weltenthaltung und Weltgestaltung", in: Morgen-Glantz 15 (2005), 108-136, hier bes. 125 Anm. 40.
Dietrich Blaufuß