Wolf D. Gruner / Wichard Woyke (Hgg.): Europa-Lexikon. Länder, Politik, Institutionen (= Beck'sche Reihe; 1506), München: C.H.Beck 2004, 505 S., ISBN 978-3-406-49425-3, EUR 19,90
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Unter den verschiedenen aktuellen Nachschlagewerken zur EU und Europa insgesamt ist das anzuzeigende zweifelsohne das anspruchsvollste und zugleich eines der profundesten: Sein ebenso faktengesättigter wie raisonnierender umfangreicher Länderteil ist eingerahmt von einer umfassenden analytischen Einführung und einem konzisen Abschnitt zu paneuropäischen Institutionen und Politikfeldern, und ein chronologisch-bibliografischer Anhang rundet das Ganze ab. Von vergleichbaren Unternehmungen unterscheidet sich der Band nicht zuletzt durch seine historische Tiefenschärfe und beachtliche thematische Breite. Hier wird Europa nicht nur synchron, sondern zugleich diachron durchleuchtet und projiziert.
Unter den fünf Abschnitten im einleitenden Teil stechen die beiden umfangreichen Beiträge von Wolf D. Gruner zu "Europa - Europavorstellungen - Europaidee - Europabilder - Europäische Einheitspläne - Europäische Integration: Ein historischer Überblick" sowie zu "Europa - Anmerkungen zu einem geographischen, kulturellen, politischen, historischen, konfessionellen, wirtschaftlichen und sozialen Raum" hervor. Auf der Grundlage umfassender eigener Vorarbeiten geht der Autor und Mitherausgeber hier der von Eugen Rosenstock 1931 formulierten Frage nach, wie "in das Wort Europa jene eigentümliche Mischbedeutung von Geographie und Geist hineingefahren" ist (49 f.) und schlägt einen weiten Bogen von der Antike bis zum EU-Konvent.
Die Länderartikel sind in zwei knappe Datenteile - "Grunddaten" und "Sozioökonomische Grundlagen" - sowie drei jeweils längeren Teile zu "Geschichte", "Politisches System" und "Politik in und für Europa" unterteilt und mit sorgsam ausgewählten Hinweisen auf deutsch- und englischsprachige Veröffentlichungen und Webadressen versehen. Eigenwillig ist allerdings die Bündelung der Länderartikel in sieben Subregionen Europas. "Mitteleuropa" besteht hier ausschließlich aus den deutschsprachigen Ländern samt Liechtenstein, wohingegen die Tschechische Republik "Osteuropa" zugeschlagen wird - zusammen mit der Slowakei, Ungarn, der Ukraine und Weißrussland, aber ohne Polen und die Russländische Föderation, die gar nicht behandelt wird und offenkundig in der Sicht der Autoren nicht zu Europa gehört. Darüber ließe sich natürlich diskutieren, doch hätte man zumindest einen Eintrag zur EU-Enklave des Gebiets Kaliningrad erwartet. Polen, Estland, Lettland und Litauen gehören der Gliederung zufolge weder zu "Mitteleuropa" noch zu "Osteuropa", sondern zum Länderblock "Nordeuropa und das Baltikum" - gemeinsam mit Dänemark, den Färörer Inseln, Grönland, Finnland, Island, Norwegen, Polen und Schweden. Immerhin wird die Türkei zu Europa gerechnet, genauer zur Ländergruppe "Südeuropa und der Mittelmeerraum", zu der überdies Italien, San Marino, Vatikanstadt, Griechenland, Malta und Zypern gehören. Das Kapitel "Südosteuropa und der Balkan" behandelt Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Moldova, Rumänien, Serbien und Montenegro sowie den EU-Staat Slowenien; "West- und Südeuropa" schließt Andorra, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Monaco, die Niederlande, Portugal und Spanien ein; und den beiden Staaten der "Britischen Inseln", also Irland und Großbritannien, ist eine separates Kapitel gewidmet.
Die den einzelnen Länderblöcken vorgeschalteten Erläuterungen sind hilfreich, machen aber nicht in jedem Fall das Gliederungsprinzip klar. So wird mit Blick auf das Nordeuropa-Baltikum-Kapitel die Ostseeanrainerschaft als durchaus erwägenswertes Kriterium genannt - entsprechend der von dem Historiker Klaus Zernack vorgeschlagenen geschichtsregionalen Konstruktion eines "Nordosteuropa" -, doch trifft dies ja auf die Färöer, Island und Grönland nicht zu, sehr wohl hingegen auf Russland. Im Vorspann zu "Mitteleuropa" werden verschiedene Regionalisierungsmuster genannt, denen zufolge diese Region in der Regel zwischen den deutschen und den russischen Reichs- und Staatsbildungen verortet wird, dann wird aber doch ein deutschsprachiges "Mitteleuropa" konstruiert. Ähnlich wird bezüglich "Osteuropas" verfahren - mit der Folge, dass dieses in dem Handbuch als willkürlich zusammengewürfelte Gruppe von fünf Staaten erscheint. Obwohl die Autoren mehrfach Oskar Halecki zitieren, rekurrieren sie nicht auf seinen Regionalisierungsvorschlag, der "Mitteleuropa" in "Westmitteleuropa" und "Ostmitteleuropa" unterteilt. Nahezu informationsfrei ist die Einleitung zu "West- und Südwesteuropa", wohingegen diejenige zu den "Britischen Inseln" geografisch-deterministisch argumentiert. Und der Vorspann zu "Südeuropa und der Mittelmeerraum" ist gleich demjenigen zu "Südosteuropa und der Balkan" ebenso kurz wie schwammig. Insgesamt wären die Autoren besser beraten gewesen, eine alphabetische Gliederung zu wählen; ihre Unterteilung in Mesoregionen gemäß vager geografischer und historischer Kriterien hilft dem Nutzer des Buches nicht - was im Übrigen auch für die segmentierte farbige Europakarte auf dem Umschlag gilt, die erst bei näherer Betrachtung als bloße Buchgrafik, nicht hingegen als großregionale Gliederung, erkennbar ist.
Die Zuverlässigkeit der Länderkapitel ist zwangsläufig unterschiedlich und vor allem die osteuropabezogenen weisen Schwächen auf. "Jugoslawien (Südslawien) war über Jahrhunderte weg ein Grenzland" (372) ist ein Satz, der auf ein 1918 gegründetes, 1944 reorganisiertes und von 1991 bis 2006 sukzessive zerfallenes staatliches Gebilde schlecht passt - mehr als ein knappes Jahrhundert kommt da nicht zusammen. Die hier aus unerfindlichen Gründen mit der slavisch-germanischen Mischbezeichnung "Moldawien" firmierende Republik Moldova hat entgegen der Vermutung der Autoren, keine "russische Grenze im Norden und Osten" (361), sondern eine solche zur Ukraine, und dass die im separatistischen Ostteil des Landes lagernden Waffenbestände des kümmerlichen Restes der ehemaligen 14. Sowjetischen Gardearmee "eines der größten Waffenlager der Welt" darstellten, muss ins Reich der Legende verwiesen werden (365). Dass Bulgarien aus der Niederlage im Zweiten Balkan- bzw. Interallianzkrieg von 1913 "lediglich 10 % seines Territoriums" retten konnte (347), ist falsch - es waren im Vergleich zur Zeit vor den Balkankriegen satte 90 %. Und die Vermutung, "die Kommunisten unter Georgij Dimitrow ergriffen 1946 mit sowjetischer Hilfe die Macht" in Bulgarien (ebd.), kollidiert mit der historischen Realität: Die Macht wurde den bulgarischen Kommunisten bereits im September 1944 von der Roten Armee übertragen; 1946 fand lediglich ein Wechsel der Staatsform - vom Königreich zur Volksrepublik - statt. Ebenfalls abwegig ist die im Artikel "Makedonien" geäußerte Ansicht, der makedonische Herrscher Alexander der Große und sein Reich des 4. Jahrhunderts v. Chr. hätten mehr als den historischen Landschaftsnamen mit dem "ersten slawisch-mazedonischen Staat" des 10. Jahrhunderts n. Chr. gemein und sei daher "der berühmteste Sohn des Landes" (356) - das wäre etwa so, als stelle man Amerigo Vespucci in die Reihe der US-amerikanischen Präsidenten. Und dass das Gebiet der heutigen Republik Makedonien von 1918 bis 1991 "eine Teilrepublik Jugoslawiens" gewesen sei (357), ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil Jugoslawien von 1918 bis 1941ein Königreich, kein Bundesstaat war.
Der dritte, alphabetisch gegliederte Teil enthält neben Skizzen bestehender paneuropäischer Institutionen auch solche zu versunkenen wie dem RGW, dem Warschauer Pakt und der WEU. Die Auswahlkriterien sind dabei nicht immer klar, da etwa die "Nordische Zusammenarbeit (Nordischer Rat, Nordischer Ministerrat)" aufgenommen sind, die Visegrád-Kooperation Polens, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarns aber nicht, auch nicht die Zentraleuropäische Initiative, die Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation oder die GUAM-Staatengruppe, bestehend aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldova. Im Abschnitt über den "Ostseerat (Council of the Baltic Sea States - CBSS)" fehlt das Organ des "Kommissars für demokratische Institutionen und Menschenrechte einschließlich der Rechte von zu Minderheiten gehörigen Personen", welches von 1994 bis 2000 existierte und auf Drängen Moskaus abgeschafft wurde. Und im allzu kurz geratenen Eintrag zur "OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)" werden weder die zentrale Untergliederung der Büros des "Hohen Kommissars für Nationale Minderheiten" in Den Haag noch der "Beauftragte für die Freiheit der Medien" in Wien genannt.
Recht holzschnittartig ist die "Europa-Chronik" im Anhang, wohingegen die "Allgemeine kommentierte Bibliographie (Überblicksdarstellungen und Hilfsmittel)" kundig ausgewählt und klug kommentiert ist. Sie ergänzt umfassend die bibliografischen Hinweise am Ende der jeweiligen Länder- und Institutionenkapitel. Auch die "Internetadressen zu Europa" im Anhang sind nützlich. Hilfreich wäre überdies ein Register der Orts- und Personennamen samt Institutionen gewesen, desgleichen mindestens eine Übersichtskarte.
Das "Europa-Lexikon" ist ein Muster an Komprimierung, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit, und seine weiterführenden Hinweise erschließen einen gewaltigen Wissensfundus. Dies macht das erfreulich preiswerte Buch zur Pflichtlektüre jedes Geistes- und Sozialwissenschaftlers.
Stefan Troebst