Bernhard Jussen (Hg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München: C.H.Beck 2005, XXIV + 478 S., 22 Abb., ISBN 978-3-406-53230-6, EUR 38,00
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Das Ergebnis vorweg: Dem Herausgeber und den 23 Beiträgern ist es nicht nur gelungen, einen ertragreichen und wichtigen Band über ein altes Thema vorzulegen, sondern erfolgreich eine für die deutsche Mediävistik neue Art gemeinschaftlichen Publizierens zu erproben, die es ermöglicht, in bislang so nicht gekannter Einheitlichkeit innovativ zu sein. Bereits jetzt ist abzusehen, dass sich die Forschung künftig an diesem Band "abarbeiten" wird, was aber kaum daran liegt, dass eine leitende These etwa in Gestalt einer Neudefinition des Königtums geleistet und durchdekliniert würde. Die "Crux der Synthese", so der Herausgeber in der zum Verständnis des Bandes essenziellen Einleitung (XXI), droht so - insbesondere auch für den Rezensenten - geradezu zu einem Kreuzweg zu werden. Welches der erbrachten Ergebnisse ließe sich sinnvollerweise aufnehmen und diskutieren? Die Erkenntnisse Egon Flaigs (1-13) zum Verhältnis zwischen magister militum und Kaisertum? Das bislang verkannte byzantinische Element der von Chilperich inszenierten Wagenrennen, wie sie uns Gregor von Tours mit seinem historiografischen "Kampfmittel" bei der Tarierung des Verhältnisses zwischen bischöflichem Stadt- und königlichem Regionalherrscher überliefert (Bernhard Jussen, 14-26)? Oder, um in der Zeitebene zu springen, Stefan Weinfurters präzise Darstellung des Wandels von persönlich-sakralem Königtum zur "Heiligkeit des Reiches" um 1157 (190-204)? Heribert Müllers Ausführungen über die - dem heutigen Historiker deutlicher als den Zeitgenossen erkennbaren strukturellen Differenzen zwischen dem Kaiserreich und Burgund "um 1473", der ein weites Panorama der zeitgenössischen Diplomatie und detaillierte Skizzen einzelner Verhandlungen liefert (255-274)? Der mögliche Respekt frühneuzeitlicher Architekten vor der Historizität bei der Neuanlage von Residenzschlössern (Matthias Müller 326-349)?
Anstelle einer den hier zur Verfügung stehenden Raum sprengenden Auflistung und Diskussion der erzielten Einzelergebnisse (die sich ohnehin unabhängig von dieser Rezension in der Forschung durchsetzen werden oder auch nicht) sei daher verstärkt die außergewöhnliche, vielleicht zukunftsweisende Anlage des Bandes erläutert. Bereits die Einleitung vermittelt einen Eindruck vom Gestaltungswillen des Herausgebers. Jussen legt grundsätzliche Sprachregelungen fest und erläutert diese samt bestimmter formaler Vorgaben; darüber hinaus verdeutlicht er überzeugend das Hauptanliegen des Bandes: Die Abkehr von den alten "Meistererzählungen" in der Hinwendung zu zeitgenössischen Fragen und Verfahren. Konkret geschieht dies durch die Vorgabe, jedem einzelnen Beitrag "ein Stück historischen Materials" (das zumindest einmal kein Text, sondern auch grafischer Natur ist) voranzustellen, von dessen Analyse ausgehend die Autoren ihre weitergreifenden Überlegungen anstellen; dabei wird immer unterschieden zwischen den Aussagen zum historischen Ablauf eines Ereignisses und dessen Verschriftlichung (dezidiert etwa bei Phillip Buc, 27-37) bzw. der Nachwirkung (etwa in Janet Nelsons Differenzierung zwischen Karl dem Großen und Charlemagne, 53), wobei letztlich auch als Ergebnis festgehalten werden kann: "Historische Normalität: Die Wirklichkeit orientiert sich am Konstrukt" (so Fried, 80). Vermittels dieser durchgängig eingenommenen Perspektive entsteht über die formale Gleichartigkeit hinaus der Eindruck inhaltlicher Geschlossenheit, der durch den ebenfalls einheitlich lakonischen Stil der (Unter-)Überschriften weiter verstärkt wird. Der Zugang zum Thema wird also immer über konkrete Zeugnisse der Zeit gesucht, die erbrachten Ergebnisse erst anschließend von bereits bestehenden Lehrmeinungen abgehoben - was sich in Anlehnung an eine Formulierung Timothy Reuters als eine Art konstruktiv gewendete "agnostisch-nominalistische Herangehensweise" (agnostic-nominalistic approach [1]) bezeichnen ließe, die auf die Beifügung von Einzelthesen zu einer geglätteten Gesamtsynthese ebenso verzichtet wie auf deren Ersetzung durch ein völlig neues Gedankengebäude. In der so erzeugten Spannung quellengebundener Dekonstruktion und partieller Rekonstruktion, einem Verfahren von wissenschaftlicher Redlichkeit, liegt denn auch der besondere Reiz des Bandes. Der "zugleich ereignis- wie typengebundene Zugriff [...] als synoptischer Darstellungsmodus europäischer Geschichte" (XXIII) erscheint demjenigen Leser überaus sinnvoll, der nicht eine geschlossene Darstellung über den "König in der Vormoderne" erwartet. Es ist die dem gewählten Verfahren eigene Offenheit, die Möglichkeiten zu einer breiter und grundsätzlicher angelegten Diskussion eröffnet, vielfältiger etwa als hergebrachte, auf "Zustände" oder "Gegebenheiten" zielende verfassungs- oder politikgeschichtliche Debatten, erhält doch die Ebene der Darstellung eine eigene Wertigkeit und wird so selbst zum zusätzlichen Element der Diskussion.
Das Konzept des Bandes geht also auf. Dass man nicht jedem Beitrag dasselbe Niveau oder die gleiche Passgenauigkeit bescheinigen kann - diese bei Sammelbänden immer wiederkehrende Feststellung wird wohl keine noch so stringente oder neuartige Konzeption jemals beseitigen können. Und ob die Abkehr von der klassischen Themenüberschrift hin zum "Wie-weshalb-warum"-Stil beantworteter rhetorischer Fragen in ihrer Stringenz gefällt oder auf die Dauer eher ermüdend wirkt, ist reine Geschmackssache. Wirkliche Kritik müsste anders ansetzen. So hat man bemängelt, dass die vom Herausgeber selbst als "Kurze Neuzeit" bezeichnete und in ihrem Umfang begründete (XX) Frühe Neuzeit nicht eben üppig bedacht ist, selbst wenn die heute landläufige Vorstellung vom Königtum sicherlich stärker von dieser Epoche als vom Mittelalter beeinflusst ist. [2] Überdies ließe sich fragen, ob das stillschweigend in die Darstellung eingebrachte Kaisertum unbedingt in einem Band über die "Macht des Königs" Platz finden muss bzw. ob oder wo Differenzierungen notwendig wären. Was die Formalia angeht, so hätte man mitunter insbesondere den übersetzten Beiträgen ein besseres Lektorat gewünscht (wenn etwa der Unterschied von einem Buchstaben im englischen Original den gemeinten Karl den Kahlen - Charles the Bald - zum gedruckten Karl den Kühnen - Charles the Bold - macht (53), der dann weder unter dem einen noch dem anderen Lemma im Register erscheint). Die vergebliche Diskussion um Nutzen und Nachteil von Fuß- oder Endnoten ist hier nicht zu führen, auch wenn der behandelte Zeitrahmen von anderthalb Jahrtausenden die Ökonomie einer Gesamtliste von Literatur und Quellen fraglich erscheinen lässt und die "soziologische" Zitierweise (Autorenname und Erscheinungsjahr) des Öfteren zum doppelten Nach-hinten-Blättern nötigt.
In Anbetracht der unbestreitbaren Verdienste dieses bemerkenswerten, ja aufregenden Bandes sind dies alles nur geringfügige, keineswegs substanzielle Monita. Diese Verdienste aber beschränken sich nicht allein auf die vielfältigen, mitunter grundlegenden Einzelergebnisse, sondern sind nicht zuletzt dem zukunftsweisenden Konzept des Herausgebers und der Bereitschaft der meisten Beiträger zu verdanken, sich diesem zu fügen. Die dadurch erreichte Geschlossenheit vermittelt den Eindruck einer diskutierenden, an gemeinsamen Fragestellungen interessierten Forschergemeinschaft - sicherlich die beste Voraussetzung für die angestrebte Zukunftsfähigkeit dieser Form von Darstellung europäischer Geschichte, zugleich aber auch ein Anstoß für die Erstellung von Sammelbänden, die mehr sein wollen als die berühmte "Buchbindersynthese".
Anmerkungen:
[1] Timothy Reuter: The Non-Crusade of 1149-50, in: Jonathan Phillips / Martin Hoch (Hg.): The Second Crusade. Scope and Consequences, Manchester 2001, 150-163, hier 158: "It is possible to make pretty well any set of medieval political events appear to lack clear sequence and coherent explanation simply by setting them out, stressing the evidential problems and chronological uncertainties, and then refusing to make connections; the agnostic-nominalist approach. But there is an opposite danger, that of taking what is known and blending it in a smooth and coherent narrative, brushing any lumps of uncertainty under the nearest available carpet."
[2] Vgl. die Rezension von Barbara Stollberg-Rilinger zu diesem Buch, in: H-Soz-u-Kult vom 11.09.2006, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-180.
Gerhard Lubich