Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969 (= Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945; Bd. 2), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2004, 734 S., ISBN 978-3-8012-5021-8, EUR 58,00
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Klaus Schönhovens zweiter Band der "Geschichte der SPD nach 1945" bündelt im Brennglas einer Partei die Geschichte des politischen Systems sowie die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in einer "experimentelle[n] Phase der Neu- und Umorientierung" (13). Sein Fokus liegt nicht zuletzt auf der politikgeschichtlichen Frage, "wie groß zwischen den beiden Volksparteien in der Bundesrepublik der Spielraum zwischen Kompromiss und Konflikt tatsächlich" (13) war - zur Debatte steht somit die Frage nach der Handlungsfähigkeit des politischen Systems, die sich als eine Zentralfrage für die Geschichte der Bundesrepublik herausstellt, wie sie nicht zuletzt Andreas Wirsching in seinem magistralen "Abschied vom Provisorium" über die Geschichte der Bundesrepublik in den Achtzigerjahren aufgeworfen hat. [1]
Schönhovens Darstellung ist in hohem Maße aus den Quellen gearbeitet, insbesondere aus den Beständen der SPD sowie der CDU und des DGB. Der Aufbau ist, bei grundsätzlich chronologischer Anlage, stark systematisch orientiert: Er behandelt die Partei sowohl in organisatorischer als auch in programmatisch-inhaltlicher Hinsicht, die Koalitionspolitik, die Innen-, Gesellschafts- und Außenpolitik sowie schließlich das Ende der Großen Koalition und den Übergang zur sozialliberalen Regierung 1969.
In Übereinstimmung mit der zeithistorischen Forschung, die die Sechzigerjahre seit einiger Zeit verstärkt bearbeitet, ordnet Schönhoven seinen Gegenstand der - längst vor "1968" beginnenden - "Periode des Übergangs" als einer "Phase der Gärung" zu, einer "Zeit des beschleunigten Wandels und der aufregenden Veränderungen" (16 f.). Insbesondere der sozialstrukturelle Umbruch im materiellen "Fahrstuhl" nach oben [2], beim "Abschied von der Klassengesellschaft" im Übergang zur Konsumgesellschaft erfasste in besonderem Maße die klassische Klientel der SPD. Zugleich schlug sich der sozialkulturelle Entwicklungstrend auch in der SPD in Form einer "sozialen und ideologischen Pluralisierung" nieder (18 f.). In diesem Zuge verwandelte sich die SPD zu einer der beiden Volksparteien, wie sie das politische System "der alten Bundesrepublik" in den Siebziger- und Achtzigerjahren so sehr prägten.
Schon in den Sechzigerjahren wurde dabei die damit verbundene Annäherung der Parteien als Entwicklung hin zu einer austauschbaren Konturlosigkeit kritisiert, wobei es sich in wesentlichen Hinsichten um eine Annäherung der SPD an die CDU handelte. Zugleich konnten auf diese Weise beide Seiten der Koalitionäre ihre Verbindung am Beginn ihrer Tätigkeit als "Modernisierungsbündnis" (25) sehen. Nicht nur, weil sie auf dem vorgesehenen Feld des Wahlrechts und auch auf dem Gebiet der Außen- und Deutschlandpolitik nicht weiter zu kommen vermochten, blieben aber die Konfrontationspotenziale zwischen den Parteien bestehen. Vielmehr stauten sie sich mit zunehmendem Verlauf der Regierungstätigkeit immer mehr auf, bis sie sich dann, nach dem Ende der Großen Koalition und der Regierungsübernahme durch das sozialliberale Regierungsbündnis, im Zuge einer scharfen Polarisierung zwischen den Parteien zu Beginn der Siebzigerjahre mit umso größerer Vehemenz entluden.
Zugleich erscheint der Regierungswechsel von 1969 als keineswegs so tiefe epochale Zäsur, wie es zuweilen angenommen wird, wenn etwa von einer Neu- oder Umgründung der Republik die Rede ist. Vielmehr führt Schönhoven wesentliche reformpolitische Kontinuitäten auf das "parteipolitische Stillhalte- und staatspolitische Stabilisierungsabkommen" (29) der Großen Koalition zurück, und im selben Maße misst er diesem Regierungsbündnis "Eigengewicht in einer Epoche des Wandels" zu. Zugleich werden die - politischer Gestaltung weithin entzogenen - kulturellen Basiskräfte in ihrer Bedeutung hervorgehoben: Individualisierung, Pluralisierung und Wertewandel sowie der Zeitgeist einer technokratischen Modernisierungseuphorie. Damit ist die eingangs gestellte Frage nach der Handlungsfähigkeit des politischen Systems und den Verständigungsspielräumen zwischen den beiden großen bundesdeutschen Parteien aufgeworfen. Neben der sachthematischen Bilanz vorangebrachter Reformvorhaben auf den Gebieten der Arbeitsmarkt- und der Bildungspolitik, der Rechts- und der Sozialpolitik sowie der Notstandsverfassung, aber auch der ausgebliebenen Reform des Wahlrechts hebt Schönhovens Bilanz insbesondere auf die "definitive Etablierung der Verhandlungsdemokratie" ab. Mit der "Durchdringung und Überlagerung des Bundesstaates durch den Parteienstaat" (695) wurde dabei eine für die weitere Geschichte der Bundesrepublik höchst folgenreiche Entwicklung in Gang gesetzt.
Solche strukturellen Bedingungen und Tendenzen werden nicht weiter bzw. tiefer analysiert. Insgesamt aber sind Schönhovens "Wendejahre" eine Parteiengeschichte, die mehr ist als die Geschichte einer Partei - eine Parteiengeschichte, wie man sie sich wünscht.
Anmerkungen:
[1] Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982 bis 1990, München 2006.
[2] Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 5. Aufl. Frankfurt/M. 1988, 122.
Andreas Rödder