Andreas Kühn: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre, Frankfurt/M.: Campus 2005, 358 S., ISBN 978-3-593-37865-7, EUR 39,90
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Wer in den Siebzigerjahren an bundesdeutschen Universitäten studierte, war mit einem Phänomen konfrontiert, das in der Rückschau geradezu unwirklich erscheint. Agitatoren verschiedener "marxistisch-leninistischer" Gruppierungen traktierten ihre Kommilitonen unermüdlich mit einer schablonierten und anachronistischen Politrhetorik, die jeglichen Bezug zur Realität vermissen ließ. Das Ganze wirkte zuweilen wie unfreiwillig satirisches Theater. Bei genauem Zuhören konnte einem allerdings das Lachen im Halse stecken bleiben, denn hier herrschte der unduldsame Gestus von Ideologen und Sektierern, die über Leichen zu gehen pflegen, wenn sie die Macht dazu haben.
Von der Erringung realer Macht waren die stalinistisch-maoistischen Organisationen freilich weit entfernt, und an der Schwelle zu den Achtzigerjahren verflüchtigte sich der Spuk erstaunlich schnell, ohne nachhaltige Folgen gezeitigt zu haben, wenn man von den intellektuellen, psychischen und sozialen Verwüstungen in den eigenen Reihen einmal absieht. Trotzdem sind die K-Gruppen ein lohnendes Untersuchungsobjekt. Das belegt unter anderem auch die vorliegende Arbeit von Andreas Kühn, die als Dissertation an der Universität Düsseldorf entstanden ist und sich sinnvollerweise weitgehend auf die drei wichtigsten und typischsten Organisationen beschränkt: KPD (anfangs mit dem Zusatz AO für Aufbauorganisation), KPD/ML (Marxisten-Leninisten) und Kommunistischer Bund Westdeutschlands (KBW). Kühn hat damit die erste umfassende wissenschaftliche Studie zum organisierten Maoismus der Siebzigerjahre verfasst, wenn man von der Arbeit Michael Steffens über den Kommunistischen Bund ("KB Nord") absieht, der eine eher untypische K-Gruppe war.
Die Größenordnung des Phänomens ist nicht zu vernachlässigen: Zwischen 100.000 und 150.000 Personen sollen die K-Gruppen im Laufe der Siebzigerjahre "in irgendeiner Form durchlaufen haben" (287). Da sich die Rekrutierung überwiegend im Studenten- und Oberschülermilieu vollzog, sind Sozialisationseffekte in der betreffenden Akademikergeneration wohl nicht zu unterschätzen. Prominente Bundespolitiker sind durch diese Schule gegangen (Krista Sager, Antje Vollmer, Reinhard Bütikofer, Ulla Schmidt). Einige ehemalige Exponenten des bundesdeutschen Maoismus genießen inzwischen Anerkennung als politische Analytiker (Gerd Koenen, Christian Semler, Joscha Schmierer).
Bei den drei untersuchten Organisationen handelte es sich um dogmatische Zerfallsprodukte der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Das gilt letztlich auch für die KPD/ML, obwohl dort personelle Kontinuitäten zur historischen (illegalen und SED-hörigen) KPD und schon von Anfang an eine gewisse Verankerung außerhalb des studentischen Milieus vorhanden waren. Gemeinsam waren ihnen die doktrinäre Ausrichtung am Marxismus-Leninismus in seiner stalinistisch-maoistischen Variante und die damit verbundene zentralistisch-elitäre Organisationsform. Freilich gab es zwischen den Organisationen Abstufungen: Die KPD/ML war zweifellos die bizarrste und sektiererischste unter ihnen. Bei KPD (AO) und KBW gab es zunächst noch (minimale) interne Bewegungsspielräume, sie entwickelten sich aber bald ebenfalls zu hyperstalinistischen Kaderorganisationen.
Der Autor befasst sich nicht nur mit der politischen Entwicklung der K-Gruppen im engeren Sinne, sondern auch mit den kultursoziologischen Aspekten des Phänomens. Diese Herangehensweise ist insofern fast zwingend, weil die K-Gruppen ihre Mitglieder vollständig beanspruchten und keinerlei private Rückzugsräume zuließen. Alle Lebensbereiche standen unter dem Gestaltungsanspruch und der Kontrolle der Organisation - und dies keineswegs nur in der Theorie. Die Lebenswelt des organisierten westdeutschen Maoismus war ein totalitärer Mikrokosmos, den Kühn anschaulich auch in seiner habituellen Dimension und seinen Alltagsimplikationen entfaltet. Zwangsläufig vollzogen die K-Gruppen einen harschen Bruch mit der dominanten Jugendkultur, die in der antiautoritären Bewegung eine große Rolle gespielt hatte. Die Männer schnitten ihre langen Haare (und Vollbärte) ab, die Rockmusik wurde aus dem Plattenschrank, die Miniröcke aus der Kleiderkommode verbannt; Popkultur galt nunmehr als "Fäulniserscheinung des Kapitalismus". Man besann sich auf traditionelle Sekundärtugenden und verstand das als "proletarisch". Das gleiche galt für das Sexualleben, das sich möglichst mit Trauschein in einer "proletarischen Zweizimmerwohnung" vollziehen sollte. Freilich waren die meisten K-Gruppen-Mitglieder noch nicht so weit und lebten (mit ihresgleichen) in Wohngemeinschaften, was der kollektiven Selbsterziehung und der sozialen Kontrolle zugute kam. Um ihrem Anspruch als "proletarische" Avantgardeorganisationen gerecht zu werden, schickten die K-Gruppen ihre Mitglieder in die Industriebetriebe und bauten dort (mit begrenztem Erfolg) Zellen auf. Der überspannte Aktivismus speiste sich aus der autosuggerierten Überzeugung, eine revolutionäre Situation stehe unmittelbar bevor.
Ungeachtet harter Rivalitäten untereinander, orientierten sich alle drei von Kühn behandelten K-Gruppen politisch-ideologisch an China, was eine Übernahme der "Drei-Welten-Theorie" und die Frontstellung gegen den sowjetischen "Sozialimperialismus" bedeutete. Die SED und ihr bundesdeutscher Ableger DKP wurden als "revisionistisch" abgelehnt. Die KPD/ML ging sogar so weit, in der DDR eine streng konspirativ arbeitende Untergrundorganisation zu gründen, die jedoch bald von der Staatssicherheit unterwandert und durch Verhaftungen aufgerieben wurde. Vor allem KPD und KPD/ML entwickelten einen volkstümelnden Nationalismus, der Berührungspunkte zum Gedankengut der politischen Rechten aufwies.
Nach dem Tode Maos und der Entmachtung der sogenannten Viererbande büßte China bei den K-Gruppen an Attraktivität ein. Die KPD/ML suchte einen Ersatz in Enver Hoxas Albanien, der KBW in Pol Pots "demokratischem Kampuchea". Der Ablösungsprozess vom chinesischen Vorbild unterminierte jedoch die politisch-ideologische Stabilität der maoistischen Organisationen. Durch die intensive Beteiligung der K-Gruppen an den Anti-AKW-Kämpfen, bei der sie eine revolutionäre Massenbasis gefunden zu haben glaubten, gerieten sie in den Sog der Neuen Sozialen Bewegungen, die ideologisch und hinsichtlich ihrer Organisationsprinzipien einen krassen politischen Gegenentwurf zu den ML-Kaderorganisationen bedeuteten. Die verschiedenen K-Gruppen konnten ihre Politikentwürfe und ihre (untereinander heftig konkurrierenden) Avantgardeansprüche nicht durchsetzen. Im Gegenteil: Sie erodierten, und ein Teil ihrer Anhänger und Kader wurde in den grünen Parteibildungsprozess gespült.
Kühn hat das Phänomen K-Gruppen überwiegend auf der Grundlage von Pressetexten und Druckschriften untersucht, Archivalien aus dem Berliner APO-Archiv wurden nur vereinzelt herangezogen. Er hat dabei scheinbar abseitige Themen wie Literatur, Musik, bildende Künste und Sport nicht ausgelassen, die besonders gut die kulturelle Regression veranschaulichen, die mit dem deutschen Maoismus verbunden war. Das Fazit des Autors lautet, die ML-Bewegung sei "die Achillesferse des Mythos vom Aufbruch" von 1968. Unter diesem Aspekt gesehen, ist das Image der APO als Emanzipationsbewegung tatsächlich zu hinterfragen.
Roger Engelmann