Magnus Brechtken: Scharnierzeit 1895-1907. Persönlichkeitsnetze und internationale Politik in den deutsch-britisch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 195), Mainz: Philipp von Zabern 2006, XVII + 454 S., 18 Abb., ISBN 978-3-8053-3397-9, EUR 73,90
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Joachim Lilla (Bearb.): Der Reichsrat. Vertretung der deutschen Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs 1919-1934. Ein biographisches Handbuch. Unter Einbeziehung des Bundesrates Nov. 1918 - Febr. 1919 und des Staatenausschusses Febr. - Aug. 1919, Düsseldorf: Droste 2006
Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2005
Wolfgang Elz (Hg.): Quellen zur Aussenpolitik der Weimarer Republik 1918-1933, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007
Friedrich von Holstein, während des Kaiserreichs lange Jahre wichtiger außenpolitischer Strippenzieher, brachte es schon früh auf den Punkt: "Aber indem wir freundlich handelten und unfreundlich redeten, setzten wir uns zwischen zwei Stühle." Diese Erkenntnis aus dem Herbst 1902 verdeckt jedoch, dass es bei allen auf deutscher Seite an der politischen Entscheidungsfindung Beteiligten opinio communis war, das genau dies die beste Methode sei, innerhalb des Staatensystems für die eigenen Interessen am meisten herauszuholen. Wie diese Art der Unberechenbarkeit in den Vereinigten Staaten, vor allem aber in Großbritannien wahrgenommen wurde, zeigt die Studie von Magnus Brechtken.
Das internationale System war im 19. Jahrhundert der übernationale, durch intensiven Kontakt untereinander geförderte Bezugsrahmen einer kleinen Zahl von Staaten, die sich ihm zugehörig betrachteten und die sich gegenseitig mehrheitlich akzeptierten. Zwischen ihnen war die Möglichkeit eines allgemeinen Krieges als Folge ihres Machtwettbewerbs in einer hierarchisch gegliederten Staatenwelt und ihres Willens zu imperialer Expansion stets vorhanden. So weit der bekannte Befund der klassischen Diplomatiegeschichte.
Brechtken fragt nun noch einmal nach den strukturellen Ursachen der Verschiebungen von Macht, der Herausbildung und Festigung von Blöcken und der scheinbaren Unvermeidbarkeit der Konfrontation. Dabei verschiebt er zugleich die Perspektive zum einen vom herkömmlichen bilateralen Blick auf ein trilaterales Panorama, zum anderen vom traditionellen Fokus auf einzelne Personen oder nationale Gruppen von Akteuren auf eine Ansicht der transnationalen Netzwerke von Entscheidungsträgern. Zudem legt er für den beschriebenen Veränderungsprozess einen Zeitraum von 1895 bis 1907 fest, den er mit dem Begriff "Scharnierzeit" belegt.
Zuvor habe eine relativ offene Situation das Staatensystem charakterisiert. 1895/96 sei noch jede Kombination denkbar gewesen. Die europäische Intervention in den chinesisch-japanischen Krieg, die Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten um Ansprüche in Venezuela und das Aufbrechen des deutsch-britischen Gegensatzes anlässlich des Krügertelegramms hätten jedenfalls noch keine klare Konstellation von Staatengruppen oder gar Bündnissen gezeigt. Das ändere sich bis 1907 völlig. Ab diesem Zeitpunkt seien die Binnenstrukturen des internationalen Systems endgültig verfestigt.
Der Verfasser setzt die Ereignisgeschichte in großen Teilen als bekannt voraus und möchte sich stattdessen auf die Darstellung des spezifisch Neuen konzentrieren. Er begnügt sich nicht mit dem statistischen Nachweis von Macht aus demografischen und ökonomischen Daten. Seine Analyse von Schiffstonnagen und Produktionszahlen sucht nach dem Moment des Umschwungs von den materiellen Grundlagen der Macht in eine Ideologie von Macht, und zwar eine der Konfrontation, wo Kooperation tendenziell auch denkbar gewesen wäre. Er spricht hier von mental maps, also Denkmustern, die sich in den Köpfen der Handelnden nahezu alternativlos verfestigt hätten.
Brechtken ist der Meinung, dass alle drei Nationen, die er untersucht, strukturell und auch mental die Voraussetzungen zur Hegemonie besaßen. Wie und warum hat aber die Geschichte den bekannten Gang genommen? Brechtken sieht eine Erklärung in den Grundhaltungen der zeitgenössischen Führungseliten, die sich in der jeweiligen zivilisatorisch-gesellschaftlichen Orientierung wesentlich unterschieden hätten.
Hierzu untersucht er die Biografien zweier einflussreicher Karrierediplomaten, des Briten Cecil Spring Rice und des Amerikaners Henry White, in ihrem Generationszusammenhang. An ihrem Beispiel zeigt der Autor wie die transatlantische Elitenvernetzung immer enger wurde, und sich eine besondere angelsächsische Solidarität herausbildete. Diese Protagonisten einer "Wendegeneration" zeichneten sich aus durch die gleiche soziale Herkunft, das gemeinsame Studium, die identischen geopolitischen Prägungen durch die Ideen Alfred Thayer Mahans und Halford Mackinders sowie einen ausgeprägten Willen, das politische Handeln ausschließlich von rationalen Erwägungen abhängig zu machen.
Gleiches oder auch nur Ähnliches kann Brechtken in Deutschland nicht ausmachen. In den Berliner Salons spöttelte man zwar über das Irrlichternde des Wilhelminismus, setzte dem aber nichts entgegen. Die unberechenbare deutsche Außenpolitik war das diametral Andere zum Politikverständnis eines Spring Rice oder White.
In dem als Wettbewerb verstandenen Geschehen verfolgten die Entscheidungsträger zwar den zunächst einmal legitimen Wunsch nach rascher machtegoistischer Vorteilsnahme. Der Preis hierfür aber war hoch. Jede Annäherung zwischen Deutschland und Großbritannien / USA blieb in der Scharnierzeit eine bloß scheinbare, sie war ohne substanzielle Basis, und die Gegensätze traten in der Folge nur umso deutlicher hervor. Eine Zeit lang konnte die Bündnisoption zwar noch offengehalten werden, aber selbst der den Deutschen ursprünglich wohlgesonnene Joseph Chamberlain schrieb das Deutsche Reich schließlich als kontinentalen Partner ab. Insbesondere auf deutscher Seite hatte es an der notwendigen und vor allem ehrlichen Allianzbereitschaft gemangelt.
Brechtken schildert, wie sich Großbritannien fortan in eine andere Richtung orientierte. Mit Blick auf das internationale System ist festzustellen, dass dieses sich erst 1907 mit dem russischen Beitritt zur Entente Cordiale ganz entscheidend veränderte, und dass es dem Deutschen Reich nicht gelang, sich in diese Entwicklung kooperativ zu integrieren. Die Erkenntnis ist keineswegs neu, dass Deutschland nicht etwa einem Masterplan folgend eingekreist wurde, sondern sich vielmehr in einem langen Prozess selbst sozusagen ausgekreist hat. Der spezifische Vorzug der Studie von Magnus Brechtken ist die außergewöhnliche Perspektive, aus der er den deutschen Anteil hieran schildert. Die Wahrnehmung der deutschen Politik durch die englisch-amerikanische Führungselite ist so noch nicht untersucht worden.
Martin Kröger