Daniel Niemetz: Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 13), Berlin: Ch. Links Verlag 2006, X + 345 S., ISBN 978-3-86153-421-1, EUR 29,90
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Soziale Herkunft, Rekrutierung, Ausbildung und Auswahl des Offizierkorps der Nationalen Volksarmee und ihrer Vorläufer im Allgemeinen und der Generalität der DDR-Streitkräfte im Besonderen haben in der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit erfahren. Die Druckfassung der Leipziger Dissertation von Daniel Niemetz über "Wehrmachteinflüsse" im ostdeutschen Militär widmet sich zwar nicht ausschließlich dem personellen Erbe, dieses steht aber "im Zentrum der Betrachtung" (2) - und damit ist das Offizierkorps das zentrale Thema des Buches. Entlang vier chronologisch angelegter Kapitel, die den bekannten militär-historischen Zäsuren (1945, 1949, 1952, 1956, 1989) folgen, untersucht der Autor außerdem Probleme der Uniformierung und, jeweils besonders gelungen, der taktisch-operativen Führung sowie der Gestaltung des inneren Dienstbetriebes zwischen den Vorbildern und Erfahrungen von Reichswehr und Wehrmacht einerseits sowie Roter Armee andererseits. In einem weiteren Abschnitt beleuchtet er die propagandistische Rolle der "Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere", die - erfolglos - die Politik der SED unter alten Wehrmachtoffizieren im Westen anschlussfähig machen sollte.
Eindeutiger Schwerpunkt ist aber die Auseinandersetzung um den Anteil von kriegsgedienten Offizieren, ferner Unteroffizieren und Mannschaften beim Aufbau des DDR-Militärs. Niemetz hat neben einer umfangreichen Auswertung der SED-Archivalien akribisch die Überwachung der Ehemaligen durch das Ministerium für Staatssicherheit rekonstruiert, obwohl er in seinen langjährigen Forschungen immer wieder durch die wechselnde Gesetzeslage bei der Einsichtnahme in Akten der "Birthler-Behörde" (BStU) blockiert wurde. Dennoch ist er bei der Klärung mancher personeller Entwicklungen oftmals auf Mutmaßungen angewiesen - nicht nur, aber auch eine Folge der unverständlichen Entscheidung des Bundesarchiv-Militärarchivs, NVA-Personalakten entgegen einer noch in den Neunzigerjahren gehandhabten liberalen Praxis nicht mehr zur Benutzung freizugeben. Niemetz kann gleichwohl eine Vielzahl von wichtigen, bisher nicht bekannten Einzelbeobachtungen präsentieren, die Beachtung verdienen: so seine Feststellung, dass trotz grundsätzlichen Misstrauens des MfS gegen ehemalige Wehrmachtoffiziere die Fronten innerhalb der Streitkräfte nicht zwangsläufig zwischen diesen und der Riege der Altkommunisten, sondern quer durch die Gruppen unterschiedlicher sozialer Herkunft verlaufen sind. Differenzierter als bislang wird in der dynamischen Aufsteigergeneration ehemaliger Wehrmacht-Unteroffiziere auch zwischen der oftmals mit dem Aufrücken in höchste Positionen überforderten "Oberfeldwebel-Generation" (das verband sie mit vielen Spanienkämpfern der altkommunistischen Riege) und den früheren Jung-Unteroffizieren der Wehrmacht unterschieden, die in HVA, KVP und NVA systematisch für künftige Spitzenpositionen aufgebaut wurden (und damit ebenfalls die fachlich unbestrittene Eignung der meisten Wehrmacht-Offiziere erlangten, ohne deren echte oder unterstellte ideologische Vorbelastung zu teilen).
Zu selten allerdings überrascht der Autor mit solchen neu akzentuierten Einsichten. Über weite Strecken sind die Leitlinien der Untersuchung und die grundsätzlichen Ergebnisse schon in den Arbeiten von Rüdiger Wenzke formuliert. [1] Mit großem Rechercheaufwand wird die empirische Grundlage dieser Erkenntnisse vergrößert, dabei aber schon früher Gesagtes sehr oft, gelegentlich zu oft, nochmals ausgebreitet. Ist aber das "feldgraue Erbe" wirklich mit der weitgehenden Konzentration auf personelle und operative Fragen sowie einigen Aspekten des inneren Gefüges der ostdeutschen Streitkräfte ausreichend erfasst? Fällt nicht auch NS-belastetes Gedankengut unter dieses Vermächtnis, dass in der NVA in Form rechtsextremer Meinungsäußerungen offensichtlich bis zum Ende der DDR überlebt hat, ohne dass Vorgesetzte mit Wehrmachterfahrung in der Truppe überhaupt noch präsent waren? Der barrasförmige Umgangston, den Niemetz als wesentliches Überbleibsel alter Wehrmachtgewohnheiten erkannt haben will, erklärt die Fragmente einer derartigen Nachwirkung der Vergangenheit nicht. Geradezu unverständlich bleibt deshalb, warum die Arbeit nicht in die Diskussion um den proklamierten Antifaschismus der DDR und deren Vergangenheitspolitik eingebettet wird, die immer noch und gerade wieder besonders für den Sicherheitsapparat aktuell ist. [2] Immerhin wird dem Fall des einzigen aktiven NVA-Offiziers, der wegen im Zweiten Weltkrieg begangener Kriegsverbrechen verhaftet wurde, recht breiter Raum eingeräumt (148-155).
Die Militarismusdiskussion, die Niemetz eingangs eröffnet, wird in der weiteren Darstellung fast gar nicht mehr aufgegriffen. Zudem ist sie für die Anlage dieser Arbeit auch kaum produktiv; Erklärungskraft gewinnt die Untersuchung durch sie jedenfalls nicht, zumal in der Forschung mit der Rede vom "Militarismus des kleinen Mannes" (294) nicht das übersteigerte "Vokalgebaren" von Vorgesetzten gemeint ist. Der Militarismusbegriff kann kaum als heuristisches Instrument dienen, um das Innenleben von Streitkräften zu erklären. Mit ihm soll vielmehr die Disposition einer Gesellschaft, die militärisches Denken und militärischen Habitus im Zivilen überbetont, also ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, definiert werden. Theoretische Verortung und Gegenstand der Arbeit korrespondieren, zumindest in der vom Verfasser gewählten Argumentation, zu wenig miteinander. Auch wenn durch diese Einschränkungen die Arbeit von Niemetz nicht in Gänze zu überzeugen vermag, bleibt sie als Summe vieler neuer Details für die weitere Forschung zur ostdeutschen Militärgeschichte wichtig.
Anmerkungen:
[1] Vgl. vor allem Rüdiger Wenzke: Das unliebsame Erbe der Wehrmacht und der Aufbau der DDR-Volksarmee, in: Rolf-Dieter Müller / Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, 1113-1138.
[2] Vgl. Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, 2. Aufl., Göttingen 2006.
Armin Wagner