Andreas Wilkens: Le Plan Schuman dans l'Histoire. Intérêts nationaux et projet européen, Bruxelles: Bruylant 2004, 462 S., ISBN 978-2-8027-1862-8, EUR 45,00
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2007 werden der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge und damit die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit großem Pomp gefeiert. So berechtigt dies ist, den eigentlichen Startschuss für die supranationale Einigung zumindest Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg gab bereits der Vorschlag des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman in seiner berühmten Pressekonferenz vom 9. Mai 1950 - der wiederum auf den französischen Planungskommissar, Jean Monnet, zurückging -, die Kohle- und Stahlindustrie der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs sowie weiterer interessierter Staaten einer neuen Institution, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, zu unterstellen.
Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung des Deutschen Historischen Instituts Paris, der Universität Orléans und des Centre d'Information et de Recherche sur l'Allemagne contemporaine anlässlich des 50. Jahrestags der Initiative im Jahr 2000 zurück und enthält Beiträge älterer wie jüngerer Spezialisten der Materie. In drei großen Kapiteln resümieren sie den historischen und weltpolitischen Kontext (Pierre Gerbet, Clemens A. Wurm, Klaus Schwabe, Volker Berghahn und Corine Defrance), die französischen Motive und die Reaktionen hierauf (Marie-Thérèse Bitsch, Élisabeth du Réau, Sylvain Schirmann, Sylvie Lefèvre-Dalbin, Bertrand Vayssière sowie Anne Dulphy und Christine Manigand),die ökonomischen und politischen Interessen der beteiligten Staaten (Andreas Wilkens, Werner Bührer, Pascaline Winand, Daniela Preda) sowie - als ein Beispiel für den Blick "des Anderen" - die Reaktion der DDR hierauf (Ulrich Pfeil).
Damit steht der Band im Spannungsfeld gleich zweier großer Forschungskontroversen, denn in den letzten Jahrzehnten ist gleich doppelt versucht worden, das Spektakuläre am Schuman-Plan zu relativieren: Zunächst haben Vertreter einer realistischen, stark wirtschaftshistorischen Schule angelsächsischer Provenienz seit den 1980er-Jahren die bis dahin vorherrschende "idealistische" Interpretation dieser europapolitischen Initiative kritisiert. Gemäß dieser Interpretation habe die hehre Idee von den "Vereinigten Staaten von Europa" Pate gestanden, die bereits in der Zwischenkriegszeit entstanden und dann von den Angehörigen der verschiedenen europäischen Widerstandsgruppen während des Zweiten Weltkriegs verstärkt aufgegriffen worden sei, um schließlich in den 1950er-Jahren operative Politik zu werden. Den "Realisten" zufolge waren es hingegen nicht die edlen Absichten europäischer Idealisten, sondern hergebrachte nationale Interessen, ja - horribile dictu - nationalstaatliche Egoismen, die die westeuropäische Einigung motivierten. In nur vordergründig paradoxer Zuspitzung lautet ihre Quintessenz daher, dass die Bereitschaft zur transnationalen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts von Bipolarismus, Kaltem Krieg und eigenem Niedergang die einzige Überlebensmöglichkeit für den klassischen Nationalstaat bot.
Zusätzlich wurde der Schuman-Plan von anderen in eine Kontinuität der französischen Deutschlandpolitik seit 1944/45 gestellt und damit sein zäsierender Charakter verneint. Diese These ordnete sich ein in den Versuch einer generellen Neubewertung der bis dahin überwiegend negativ dargestellten französischen Besatzungs- und Deutschlandpolitik in der frühen Nachkriegszeit. Sie kann sich auf eine Reihe einschlägiger Quellen beziehen, die tatsächlich belegen, dass unter der Oberfläche "harter" deutschlandpolitischer Forderungen bereits frühzeitig "weiche" Überlegungen deutsch-französischer Zusammenarbeit angestellt wurden. Insofern konnte sich auch die EGKS durchaus auf gedankliche Vorarbeiten aus den vorangegangenen Jahren stützen. Damit hat diese "revisionistische" Interpretation seit den 1990er-Jahren dazu beigetragen, das bisher eindimensionale Bild einer allein destruktiven Deutschlandpolitik Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg plastischer und vielschichtiger zu machen.
Die beiden abschließenden Beiträge des Sammelbandes spiegeln diese Kontroversen und bilanzieren den Schuman-Plan durchaus ambivalent: Während Gérard Bossuat stärker den identitätsstiftenden Mythos der Initiative in den Vordergrund rückt, betont Wilfried Loth vor allem, dass dieser Mythos einen zutreffenden historischen Kern habe. Tatsächlich markiert Schumans Initiative für die deutsch-französischen Beziehungen, aber auch für die westeuropäische Einigung eine entscheidende Zäsur und spiegelt gleichzeitig den der Integrationspolitik zugrunde liegenden unlösbaren Zusammenhang von nationalen Interessen und europäischen Idealen: Die Entscheidung für die EGKS resultierte zunächst aus dem jeweiligen nationalen Interesse der beteiligten Staaten, das deren altes Weltbild reflektierte - auf der Seite der nichtdeutschen Partner, insbesondere Frankreichs, das vorrangige Bemühen um Sicherheit vor Deutschland, seitens der Bundesrepublik vor allem der Wunsch nach Wiedererlangung der Souveränität. Doch die erfolgreiche Zusammenarbeit in den folgenden Jahren und Jahrzehnten veränderte diese Sichtweisen sukzessive, indem die Angst vor Deutschland nach und nach abgebaut wurde, sich aber auch das Ideal nationaler Unabhängigkeit stark relativierte. Gleichzeitig avancierte die Erhaltung der neuen westeuropäischen Institutionen immer mehr zum gemeinsamen vitalen Interesse der beteiligten Nationalstaaten. Das alles war zugegebenermaßen 1950 mitnichten klar und wohl noch nicht einmal von jedem der Beteiligten beabsichtigt; insofern war der Schuman-Plan in der Tat ein "Sprung ins Unbekannte", wie ihn der französische Außenminister in seiner Pressekonferenz vom 9. Mai 1950 selber beschrieb. Dazu passte auch, dass sowohl er als auch Adenauer in ihren Ländern jeweils erhebliche Widerstände überwinden mussten, um die EGKS tatsächlich durchzusetzen.
Dieses Moment des bewussten Neuanfangs ungeachtet seiner strukturellen Bedingtheiten und konzeptionellen Begrenzungen sollte nicht leichter Hand abgetan werden. Natürlich sind Wissenschaftler vor allem Nüchternheit und Rationalität verpflichtet; insofern ist es ihre vornehmste Pflicht, historische Mythen zu zerstören, insbesondere jene, die sich um einzelne Akteure ranken. Dazu zählt gerade auch die - zu Recht ironisierte - europapolitische "Meistererzählung" von "the lives and teachings of the European saints" (Alan S. Milward), die ihren Ursprung in der nachträglichen Verklärung des Schuman-Plans hat. Allerdings sollte man sich davor hüten, über der notwendigen Eruierung bedingender und begünstigender Faktoren bestimmter Aktionen und Entscheidungen jegliche politische Originalität zu leugnen und eine eingetretene Entwicklung als selbstverständlich darzustellen, die in ihrer Entstehungszeit tatsächlich keineswegs alternativlos und durchaus umstritten war. Geschieht dies dennoch, verzerrt man bestenfalls die historische Realität, indem eine vergangene Epoche nur durch die Brille der eigenen lebensweltlichen Erfahrung gesehen wird; schlimmstenfalls desensibilisiert es den Historiker als Produzenten geschichtlichen Orientierungswissens wie als Staatsbürger für die Gefährdungen des Erreichten in der Gegenwart. Wenige historische Prozesse sind wirklich irreversibel; zu ihnen zählt die europäische Integration noch mitnichten. Es ist eine Stärke des vorliegenden Sammelbandes, nicht nur die bisherige Spezialforschung zur Gründungsgeschichte der EGKS zu bilanzieren, sondern auch für diesen umfassenderen Zusammenhang zu sensibilisieren.
Reiner Marcowitz