Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Ihre Kriegserfahrung und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; Bd. 147), München: C.H.Beck 2006, XLIV + 205 S., ISBN 978-3-406-10743-6, EUR 22,00
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Bei Julia Murkens Arbeit handelt es sich um eine bei Dieter Langewiesche angefertigte Dissertation aus dem an der Universität Tübingen laufenden "Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen" der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der der "deutende[n] Aneignung der Kriegswirklichkeit durch die jeweils Betroffenen" und der "inhaltliche[n] Bestimmung von Kriegserfahrung und ihre[r] Prägekraft für die Nachkriegsgesellschaften" nachgeht. [1] Murken untersucht vor diesem Hintergrund die bayerische Beteiligung am Russlandfeldzug 1812 aus kulturgeschichtlicher Sicht. Sie interessieren nicht die eigentlichen militärischen Geschehnisse, sondern Alltag und Erfahrungen der Soldaten. Daher nimmt sie Vorgeschichte und Verlauf des Krieges kaum in den Blick; ebenso knapp gerät der Forschungsüberblick. Ihr Forschungsansatz stützt sich auf den im SFB 437 verwendeten "wissenssoziologischen Erfahrungsbegriff". Dieser geht davon aus, dass eine authentische Rekonstruktion der Vergangenheit unmöglich und Wirklichkeit immer eine soziale Konstruktion ist. Erfahrungen werden danach durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt und unterliegen damit zugleich einem "zeitlichen Wandel" (3 f.).
Murkens Quellengrundlage sind Selbstzeugnisse der bayerischen Kriegsteilnehmer. Es handelt sich um Briefe, Tagebücher und Erinnerungen aus allen Rängen, wobei die Zeugnisse von Offizieren klar überwiegen. Die Autorin schildert zunächst den ereignisgeschichtlichen Hintergrund und dann den Kriegsalltag. Im nächsten Schritt wendet sie sich sodann den in den Quellen überlieferten Kriegserfahrungen zu. Sie untersucht diese hinsichtlich etwaiger religiöser und nationaler Grundierungen sowie der in ihnen angelegten Männlichkeitsideale. Zu diesem Zweck wertet sie Quellen aus, die unmittelbar während des Feldzugs (etwa Briefe) oder zumindest nur kurze Zeit später entstanden. Die hieraus gewonnenen Ergebnisse vergleicht sie in einem letzten Schritt mit den Darstellungen von Ego-Dokumenten, die mit deutlichem Abstand zu den Ereignissen verfasst wurden, und mit der Historiografie.
Auf den Kriegsalltag selbst geht Murken ausführlich ein, um die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen die Erfahrungen entstanden. Ihrer Ansicht nach unterschied sich der Alltag dieses Krieges erheblich von dem früherer napoleonischer Kampagnen und hatte eher den Charakter eines frühneuzeitlichen Krieges. Die Größe der Armee habe einen Rückgriff auf die an sich bereits aufgegebene Magazinversorgung des 18. Jahrhunderts gleichsam erzwungen. Auch sei die Armee von einem "frühneuzeitlichen Tross" (43) begleitet gewesen, der einen Zusammenbruch der Versorgung nicht verhindern konnte. Die Folgen waren Hunger, Krankheiten und Disziplinverfall, die die Fragen zulassen, welche Deutungsmuster dieser extrem entbehrungsreiche Alltag erzeugte bzw. welche Leitkategorien die sich daran anknüpfenden Erfahrungen bestimmten.
Zunächst einmal kann Murken anhand der Ego-Dokumente nachweisen, dass religiöse Grundeinstellungen eine zentrale Rolle für die Bewältigung dieses Kriegsalltages spielten. Das traf freilich eher auf die unteren Ränge zu als auf die Offiziere. Für das Erwachen eines deutschen Nationalbewusstseins liefern die ausgewerteten ereignisnahen Zeugnisse keine Anhaltspunkte. Unter den einfachen bayerischen Soldaten und auch Offizieren gab es keine "starre, national begründete Abgrenzung" von Fremden (135). Weder der russische Kriegsgegner noch die verbündeten Franzosen lieferten ihnen die "Feindbilder", die sich erst im Verlaufe des langen 19. Jahrhunderts verfestigten. Zudem verstanden die Kriegsteilnehmer ausschließlich Bayern und keine wie auch immer geartete deutsche Nation als Heimat. Mit Händen greifbar sind in den zeitnahen Zeugnissen darüber hinaus Ängste, die die Soldaten offen thematisierten - Schwäche galt ihnen offensichtlich nicht als unmännlich. Ein männliches Selbstverständnis manifestierte sich in den Briefen und Tagebüchern vor allem im Zusammenhang mit der Rolle als Familienoberhaupt.
Diesen Erkenntnissen stellt die Autorin nun die Tendenzen später entstandener Ego-Dokumente bzw. der Historiografie zur Seite. Ihr gelingt es dadurch, "Umdeutungen" der erlebnisnahen Erfahrungen nachzuweisen. Die später entstandenen Selbstzeugnisse weisen eine dezidiert antifranzösische Haltung auf. Auch stellen sie die bayerische Heimat in den Kontext einer "föderativen (deutschen) Nation" (176). Hier liegt somit eine nachträgliche "Nationalisierung" der unmittelbareren Erfahrungen vor. Zudem zeigt sich eine Heroisierung, da die später entstandenen Quellen Tapferkeit und Todesverachtung akzentuieren ganz im Unterschied zu den Todesängsten der zeitnahen Quellen. Hier gelingt es Murken, die Wandelbarkeit von Erfahrungen bzw. deren Anpassung an veränderte gesellschaftliche Deutungsmuster sehr schlüssig vor Augen zu führen.
Die Hauptstärke der Studie liegt zweifellos in der detaillierten Analyse bisher weitgehend vernachlässigter Quellen. Auf eingängige Weise arbeitet Murken dabei die Problematik der Quellengattung "Kriegserinnerungen" heraus. Es wird deutlich, wie präzise eine Quellenkritik in diesem Zusammenhang zu sein hat. Überzeugend fällt die Widerlegung nachträglicher Versuche aus, die Erfahrungen im deutschnationalen Sinne aufzuladen. Ein wichtiges Ergebnis liegt jedoch auch in der Begrenztheit der Informationen, die sich aus den Ego-Dokumenten gewinnen lassen. So beschränkt sich die religiöse Dimension der Erfahrungen darauf, dass die Soldaten Trost im Glauben suchten, was kaum zu überraschen vermag. Weitergehende Aussagen, etwa hinsichtlich konfessioneller Unterschiede, erlaubt die Quellenlage offenkundig nicht. Generell überwiegen negative Befunde bzw. Erkenntnisse darüber, was sich anhand der Quellen nicht herauslesen lässt. Dieser Sachverhalt stellt natürlich letztlich auch ein Ergebnis dar. Eventuell hätte die Autorin jedoch die Erwartungen hinsichtlich positiver Befunde von Anfang an etwas mehr drosseln sollen. Insgesamt ist Lesern, die sich für den Umgang mit sogenannten Ego-Dokumenten interessieren oder selbst mit solchem Material arbeiten, diese Studie sehr zu empfehlen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mit Blick auf die Anfänge des deutschen Nationalismus bzw. der damit verbundenen Mythisierung einen wichtigen Beitrag leistet.
Anmerkung:
[1] So die Angaben auf der Homepage des SFB 437, URL: http://www.uni-tuebingen.de/SFB437/F.htm [18.04.2007], vgl. 1. und 2. Absatz.
Sebastian Dörfler