Eva Ochs: "Heute kann ich das ja sagen". Lagererfahrungen von Insassen sowjetischer Speziallager in der SBZ/DDR (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 343 S., ISBN 978-3-412-01006-5, EUR 34,90
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Mit dem Ende der DDR hat die Forschung das Thema der politischen Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone und im ostdeutschen Staat praktisch wieder entdeckt. Einen Schwerpunkt stellten hierbei Geschichte und Funktion der sowjetischen Speziallager in der SBZ dar, die nicht zuletzt durch grausige Funde von Massengräbern auch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurden. Die sowjetische Lagerpolitik ist heute in vielen Zügen relativ gut dokumentiert, auch wenn die genaue Zusammensetzung der Häftlingsgruppen nach Verhaftungskategorien kaum noch exakt zu eruieren sein wird. [1] Daneben haben sich gerade in den letzten Jahren eine ganze Reihe von ehemaligen Insassen der Lager mit Erlebnisberichten zu Wort gemeldet. Doch erst die Arbeit von Eva Ochs stellt sich - mit Erfolg - der Aufgabe, die Erfahrungsgeschichte der Häftlinge systematisch aufzuarbeiten. Ihr Erfahrungsbegriff orientiert sich an Edward P. Thompson. Erfahrung wird somit als Prozess verstanden, der Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen in den Blick nimmt. Dieser Ansatz integriert die Nachgeschichte der Lagerjahre sowie, weitaus geraffter, auch deren Vorlauf in die Interpretation. Auf diese Weise werden nicht nur immer wieder langfristige individuelle Folgebelastungen der schwierigen Haftjahre deutlich: Ochs sah sich sogar mit der Situation konfrontiert, dass ein Gesprächspartner aufgrund des Interviews einen Herzinfarkt erlitt und sich auch nach seiner Genesung jeden weiteren Kontakt verbat (210 f.). Darüber hinaus führen die politischen Verarbeitungsmechanismen der ehemaligen Häftlinge jenseits der konkreten Lagererfahrungen übergreifende deutsche Befindlichkeiten in Ost und West vor Augen.
Eva Ochs stützt ihre Analysen weniger auf die Erinnerungsliteratur als auf 38 lebensgeschichtliche, narrative Interviews, die in den Jahren 1991 bis 1997 geführt wurden. Dass angesichts der laufenden öffentlichen Diskussionen sowie der mit dieser in Wechselbeziehung stehenden fortdauernden individuellen, auch schriftlichen Verarbeitung des Geschehens [2] die Entstehungszeiträume der Interviews Einfluss auf den Gehalt der Gespräche haben können, ist eine kaum zu umgehende Gefahr eines solchen Großprojekts. Dieser ist sich Ochs ebenso bewusst wie der Tücken des nahezu unvermeidlichen Übergewichts der HJ-Generation unter den Interviewpartnern (169, 329 f.). Repräsentativer stellt sich deren Zusammensetzung hinsichtlich der Haftgründe (elf Personen ohne direkten NS-Bezug), des Geschlechts (sechs Frauen) oder der Wahl des Wohnorts nach der Entlassung (zwölf ehemalige Bürger und Bürgerinnen der DDR) dar. Unter den 38 Befragten sind schließlich auch elf Personen, die von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt worden sind sowie zwei, die nach ihrer Entlassung aus dem sowjetischen Lager noch einmal verhaftet beziehungsweise von DDR-Gerichten verurteilt wurden.
Im ersten Teil widmet sich Ochs ausführlich den Lagererfahrungen der Häftlinge. Die ehemaligen Lagerinsassen bestätigen im Kern bei allen Unterschieden der Lager und Haftepochen die Missstände, die die Forschung anhand kritischer Lektüre der sowjetischen Lagerdokumente für Verhaftungs- und Verhörpraxis, Unterkünfte, Bekleidung, Transporte, Verpflegung, medizinische Versorgung, Arbeit und - arg begrenzte - Kulturarbeit beschrieben hat. Von Bedeutung sind hier natürlich eigene Akzentsetzungen der Häftlinge: Ihre rigide Isolierung von der Außenwelt erwies sich neben dem Hunger als schlimmste Erfahrung vieler Insassen der Speziallager; es gibt im Übrigen keinen Grund, in der Analyse diesen eingebürgerten terminus technicus durch "Sonderlager" zu ersetzen (2). Die Sicht "von unten" misst unter den vorherrschenden katastrophalen Lebensbedingungen zudem der ausdifferenzierten deutschen Lagerselbstverwaltung große Bedeutung bei. Verwaltungs- und Verpflegungsaufgaben lagen weitgehend in den Händen von Lagerinsassen. Aufgrund dieser unmittelbaren Bedeutung für Leben und Überleben werden die Angehörigen der Selbstverwaltung in Berichten oftmals ausführlicher und dazu explizit negativer beschrieben als das sowjetische Personal. Auch deutsche Bewachungsmannschaften, die 1950 einige der Interviewten übernahmen, verlieren in den Berichten den Vergleich mit ihren sowjetischen Kollegen. Ochs weist aber zu Recht darauf hin, dass eine Vielzahl von Häftlingen zumindest für einen gewissen Zeitraum Funktionen ausübte; und direkte Kontakte mit sowjetischen Vertretern etwa beim Zählappell hinterließen ebenfalls einen bitteren Geschmack. Angesichts dieser unaufgelösten Widersprüche hätte man sich eine zupackendere Untersuchung des zeitgenössischen beziehungsweise nachträglichen "Russen-Bilds" gewünscht, für die die Gesprächsaussagen zahlreiche Anknüpfungspunkte geboten hätten (45, 136 f., 244). Indes zeichnet Ochs überzeugend die Ambivalenz von Ohnmachtserfahrung und Selbstbehauptung nach, die die Lagerdeutungen der Häftlinge durchziehen. Diese wiederum sind eng mit einer Schulddiskussion verwoben. Mit markanten Beispielen wie der völlig überraschenden eigenen Verhaftung sowie dem Topos der Festnahmen von der Straße weg, unterstreichen die Interviewpartner ihre Selbstsicht als unschuldige Opfer eines Unrechtssystems.
Diese Deutung, das ist ein auf den ersten Blick überraschendes Ergebnis der Studie, wird von den Gesprächspartnern offenbar auf alle "politischen" Häftlinge übertragen, ob sie nun wegen einer NS-Belastung oder als vermeintliche oder tatsächliche Gegner der Besatzungsmacht festgehalten wurden. Die von Ochs präsentierten Fallbeispiele machen passim noch einmal die ganze Bandbreite sowjetischer, angeblich politischer Verhaftungsgründe und damit implizit eine potenzielle Überdehnung des Widerstandsbegriffs deutlich (Fall Helmut Engert, 167 ff.). Politische Opponenten von SED und Roter Armee bzw. resistente SBZ-Bürger mussten insgesamt keineswegs gegen nationalsozialistische Ansichten immun sein, während NS-Belastete frühere Überzeugungen schon korrigiert haben konnten: Die Trennlinie zwischen diesen beiden Gruppen kann letztlich kaum scharf gezogen werden. Generell wurde der Nationalsozialismus von den Lagerinsassen auffallend wenig diskutiert, erwies sich allerdings auch nicht als nachhaltig wirksame Ideologie. Neben diesem Vergleich der Deutungsmuster von Häftlingen mit bzw. ohne verhaftungsrelevanter NS-Vergangenheit widmet sich Ochs anhand überzeugend ausgewählter und spannend erzählter Einzelschicksale ausführlich dem Einfluss des west- oder ostdeutschen Wohnorts nach der Entlassung. Der individuelle Zugriff sperrt sich auch hier gegen grobe Verallgemeinerungen der späteren, höchst unterschiedlichen Lebensentwicklungen und Überzeugungen. Diese wurden im Falle der DDR-Bürgerinnen und -Bürger im Umbruch ab 1989 zudem noch einmal fundamental neu bewertet. Ochs gelingt es indes, aus diesen disparaten Verläufen einen gemeinsamen Grundnenner ehemaliger Häftlinge der Speziallager herauszufiltern: Das Beschweigen der Lager hatte in Ost und West neben gemeinsamen privaten sehr unterschiedliche öffentliche Gründe und Dimensionen. Die in der DDR Verbliebenen erwarteten offenbar erst gar keine öffentliche Anerkennung, nahmen aber sukzessive die integrierend wirkenden beruflichen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten wahr. Der bundesdeutsche Umgang mit den Speziallagern wurde dagegen den höheren Ansprüchen vieler in die Bundesrepublik gezogenen ehemaligen Häftlinge nicht gerecht. Sie sahen sich auch im Westen mitunter bürokratischem oder gesellschaftlichem Misstrauen ausgesetzt. Die Bilanz des öffentlichen Interesses des Westens an Erfahrungen aus Speziallagern fällt für die 1950er- und frühen 1960er-Jahre in der Forschung zwiespältig, für die Jahre der Entspannungspolitik einhellig negativ aus. Ein nicht wiedergutzumachender Statusverlust sorgte schließlich gerade bei älteren Entlassenen in der Bundesrepublik für zusätzliche Enttäuschung. Weitere Forschungen sollten diese Integrationsbefunde mit den Erfahrungen anderer gesellschaftlicher Gruppen der langen Nachkriegsjahre - wie Vertriebene, Deportierte, Kriegsgefangene - zusammenzuführen. Es macht den besonderen Wert der Arbeit von Ochs aus, dass sie für die Insassen der sowjetischen Speziallager in Deutschland den langen Bogen aus der Lager- in die frühen und späten Nachkriegsgesellschaften geschlagen hat.
Anmerkungen:
[1] Maßgeblich für die Internierungen Sergej Mironenko: Lutz Niethammer / Alexander von Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950, 2 Bde., Berlin 1998.
[2] Vgl. hier besonders die 2000 in Schnellbach publizierten Memoiren der Interviewpartnerin Annerose Matz-Donath: Die Spur der Roten Sphinx. Deutsche Frauen vor sowjetischen Militärtribunalen, die Ochs nicht genutzt hat.
Andreas Hilger