Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München: C.H.Beck 2005, 528 S., 53 Abb., ISBN 978-3-406-53512-3, EUR 29,90
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Das Buch von Gerd Koenen ist vielfach gepriesen und ausgezeichnet worden, zuletzt auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Die Gründe für diesen bemerkenswerten Erfolg bei Kritik und Publikum sind wohl auch in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Konjunkturen zu suchen. In der deutschen Russlandperzeption ist nach der "Gorbymanie" von 1989/90 längst wieder Ernüchterung eingetreten. Während Gorbatschow als der "gute Russe" schlechthin galt, wurde Jelzin und wird mehr noch Putin in Deutschland mit einer Mischung aus Erwartung und Misstrauen betrachtet. Der Mord an der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja hat die Rückkehr zu einer negativen Sicht des Riesenreichs im Osten und seiner herrschenden Schicht inzwischen erheblich beschleunigt. In dieser Situation ist eine profunde Analyse der herkömmlichen deutschen Russlandbilder zwischen Faszination und Aversion, Emphase und Phobie offenbar sehr gefragt. Da wir den Anspruch erheben, in einer modernen, sich ihrer selbst bewussten Gesellschaft zu leben, wollen wir uns nicht nur Russland, sondern auch unsere eigenen Affekte in Hinblick auf Russland erklären lassen.
Koenen unternimmt dies am historischen Beispiel der deutschen Reaktionen auf die russische Revolution und den jungen Sowjetstaat. Seine Untersuchung fußt auf der enzyklopädischen Erfassung deutschsprachigen Schrifttums, die er für den vorerst letzten, die Jahre 1917 bis 1924 umfassenden Band von Lew Kopelews Großprojekt "West-östliche Spiegelungen" geleistet hat. [1] Daher liegt der eindeutige Schwerpunkt - etwa drei Viertel der Studie - auf dem Ersten Weltkrieg und den ersten Nachkriegsjahren, während die Zeit zuvor und die weitere Entwicklung bis 1945 (und bis zur Gegenwart) nur knapp und weit weniger fundiert behandelt werden. Die Konzentration auf etwa zehn Jahre um das welthistorische Ereignis der Oktoberrevolution herum ist legitim. Leider wird im weiter gesteckten Untertitel wieder einmal mehr versprochen, als eingehalten werden kann. Das Segeln unter falscher Flagge aus Rücksicht auf den "Markt" scheint auch im wissenschaftlichen Bereich üblich zu werden.
Der Autor bietet eine intelligente Synthese der reichhaltigen Forschung über die deutsch-russische Beziehungsgeschichte unmittelbar vor und nach der Machtübernahme Lenins. Dabei wird erneut die spannende Geschichte der deutschen Revolutionierungspolitik gegen das Zarenreich bis hin zur Unterstützung der Bolschewiki erzählt. Alexander Parvus-Helphand, Karl Radek, der plombierte Wagon, all das darf noch einmal auftreten - und ist natürlich nicht neu. Auch Koenens Protagonist Alfons Paquet ist der Forschung beileibe kein Unbekannter. Schon Winfried Baumgart hat vor vier Jahrzehnten in seinen immer noch maßgeblichen Arbeiten über die deutsche Ostpolitik auf diesen interessanten Zeitzeugen hingewiesen und seine Moskauer Papiere ediert. [2] Es bleibt aber Koenens Verdienst, die Ergebnisse der älteren Forschung dem heutigen Lesepublikum zu vermitteln.
Darüber hinaus möchte der Autor freilich die herkömmlichen Erklärungsmuster von der traditionellen deutschen Russlandfeindschaft und ihrer Fortschreibung im Antibolschewismus dadurch relativieren und ergänzen, dass er die deutschen Ostorientierungen und Russlandfaszinationen "mit einigen kräftigen Strichen und deutlichen Konturen in das Gesamtbild" einzeichnet. In seiner brillanten Einleitung, die als gelungener Essay für sich stehen könnte, skizziert Koenen den deutschen "Russland-Komplex" als widersprüchliches Fremdbilder-Konglomerat aus negativen und positiven Projektionen, wobei das Faszinierende zugleich auch das Abschreckende sein konnte und umgekehrt. Eine solch vielschichtige Deutung des Russlandbilds in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sehr überzeugend. Anders als Koenen suggeriert, steht sie allerdings keineswegs quer zur bisherigen Forschung, auch wenn diese die russophoben und antibolschewistischen Affekte - wegen ihrer politischen Relevanz mit guten Gründen - stark gewichtet hat. Dass sich an die deutsch-russische Hassliebe zum Teil bewusst ein geistig-politischer "östlicher" Gegenentwurf zur kulturellen und materiellen "Verwestlichung" nach 1918 knüpfte, ist als These einleuchtend, bedarf jedoch noch tieferer Untersuchung.
Die Probleme der Darstellung beginnen nach diesem fulminanten Auftakt. Koenen wählt einen stark deskriptiven Weg mit zahlreichen Zitaten und Paraphrasierungen, um seine eingangs aufgestellte These vom "Russland-Komplex" zu untermauern. Da der Autor seine Auswahlkriterien nicht erläutert, wird an keiner Stelle wirklich klar, weshalb er diese und jene Quelle, Biografie, Fallgeschichte heranzieht und andere auslässt. Dass sich Koenen als bester Kenner der umfangreichen Publizistik über Russland von 1917-1924 so stark auf das interessante, aber eher untypische Beispiel Paquet versteift, ist genauso wenig nachzuvollziehen wie die Relevanz der anderen "Kronzeugen". Auch würde man gerne deutlich mehr über die deutsche Perzeption Sowjetrusslands ab Mitte der 1920er-Jahre erfahren, die durch die zahlreichen Reisen in das Reich der Bolschewiki eine neue Komponente erhielt. Hier wäre im Übrigen der Vergleich mit den zeitgleichen Russlandbildern anderer europäischer Nationen höchst aufschlussreich, um einordnen zu können, was an den deutschen Berichten eigentlich spezifisch deutsch war.
Ein weiteres gravierendes Manko ist, dass Koenen in der Bewertung der deutschen Ostpolitiken und Ostorientierungen über sein Ziel, mit einigen kräftigen Strichen das Bild ambivalenter zu gestalten, immer wieder weit hinaus schießt. Anstatt sie lediglich um wichtige Aspekte zu ergänzen, werden die negativen Seiten der gegenseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen an vielen Stellen regelrecht übertüncht. Einige wenige Beispiele: Das deutsche Militärverwaltungsgebiet "Ober Ost" im Ersten Weltkrieg wird viel zu positiv gezeichnet; bei der deutschen Ostpolitik werden langfristige Konzeptionen gegenüber machiavellistischen Improvisationen überbewertet; die Virulenz und teilweise auch Verbindung antisemitischer und antibolschewistischer Phobien im deutschen Bürgertum während der Revolutionsphase 1918-1920 werden marginalisiert. Dagegen gewichtet Koenen die positiven Seiten der Ostorientierung zu stark und überträgt sie pauschal auf weite Teile der deutschen Bevölkerung. Lässt sich etwa die verbreitete Begeisterung für russische Literatur, besonders für Dostojewski, wirklich im Sinne einer allgemeinen politisch-ideologischen Hinwendung nach Osten deuten?
Vollends problematisch wird Koenens Argumentation, wenn er am Ende doch noch in großen Sprüngen die Dekade, in der er sich sicher bewegt, verlässt, um generelle Aussagen über das NS-Regime, seine Ideologie und seine Verbrechen zu treffen. Dabei gelangt er u. a. zur These, dass die nationalsozialistische Außen- und Kriegspolitik aus grundsätzlicheren als nur taktischen Erwägungen zeitweise die alte Option einer dauerhaften deutsch-russischen Verbindung verfolgt habe. Erst als sich diese als unmöglich erwiesen habe, sei das ideologische Feindbild vom "jüdischen Bolschewismus" als Vorwand für den Angriff auf die Sowjetunion propagandistisch herbeizitiert worden. Also keine genuine ideologische Überzeugung, sondern ein Propagandatrick? Koenen weiter: "Es schien und scheint mir eine eher hilflose, geradezu tautologische Formel, den 'Kommissarbefehl' aus dem Antibolschewismus, den 'Generalplan Ost' aus der Russophobie und den Judenmord aus dem Antisemitismus zu erklären, so wie Fritz Reuters Onkel Bräsig die verbreitete Armut der Leute aus der allgemeinen Powreteh erklärte." (448). Das ist geistreich formuliert, stützt sich aber auf zwei Fehlschlüsse. Erstens kann, anders als Koenen unterstellt, überhaupt keine Rede davon sein, dass die jüngere Forschung die kausale und faktorielle Vielschichtigkeit des östlichen "Vernichtungskrieges" eindimensional auf die Ideologie reduziert habe. Zweitens waren die Faktoren Antibolschewismus, Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus aber eben doch, anders als der Autor nahe legt, konstitutive Elemente der deutschen Außenpolitik, Kriegführung und Besatzungspolitik. Wie erklärt sich Koenen etwa, dass die Massenmorde an den sowjetischen Juden in den ersten Feldzugsmonaten unter Mitwirkung und mit Akzeptanz weiter Teile der Wehrmacht vollzogen wurden, wenn er die Verknüpfung von antisemitischen und antibolschewistischen Affekten für zweifelhaft hält (431)?
So hinterlässt diese Studie einen zwiespältigen Eindruck. Dass uns Koenen die positiven Projektionen im deutschen Russlandbild zwischen den Weltkriegen wieder stärker ins Gedächtnis ruft, ist gewiss verdienstvoll. Dass er dabei wiederholt nicht nur kräftig nachzeichnet, sondern überzeichnet, ist teilweise anregend, teilweise schlichtweg ärgerlich.
Anmerkungen:
[1] Gerd Koenen / Lew Kopelew (Hg.): Deutschland und die russische Revolution 1917-1924 (= West-östliche Spiegelungen, Reihe A, Band 5), München 1998.
[2] Winfried Baumgart: Deutsche Ostpolitik. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien / München 1966; Winfried Baumgart (Hg.): Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman, März bis November 1918, Göttingen 1971.
Johannes Hürter