Helmut Müller (Bearb.): Das Territorialarchiv des Herzogtums Westfalen Band 1, Münster: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Staatsarchiv Münster 2006, LVI + 739 S., ISBN 978-3-932892-18-9, EUR 29,80
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Die Bereitstellung von Findmitteln als unerlässliche Informations- und Arbeitsinstrumente für Archivbenutzer muss "weiterhin als klassische Aufgabe, ja als nobile officium für alle Archive" gelten. [1] Dass man im Staatsarchiv Münster für die Recherche-Utensilie eines zentralen westfälischen Altbestandes den traditionellen Weg der buchförmigen Veröffentlichung gewählt hat und nicht allein auf die Karte der Online-Fähigkeit von Findbüchern setzt, darf als löblich gelten. Archivbenutzern mit althergebrachten Lesegewohnheiten verschafft es jedenfalls ein gutes Gefühl, ein stattliches, nach allen Regeln der Kunst erarbeitetes Aktenverzeichnis in die Hand nehmen zu können. [2]
Das Vorwort deutet das bisherige Schattendasein des Territorialarchivs hinsichtlich seiner Erschließung und Erforschung an. Letzteres wird deutlich im Literaturverzeichnis, von dessen vierzehn Titeln noch acht aus der Zeit vor 1914 stammen. Nichtsdestoweniger bietet das Buch dem Leser eindrucksvolle Eckwerte: 56 Seiten Einleitung, 527 Seiten Verzeichnung und 210 Seiten eines hieb- und stichfesten Orts-, Personen- und Sachregisters machen eine Aktenüberlieferung von rund 1800 archivalischen Einheiten zugänglich, deren Laufzeit die gesamte Frühe Neuzeit bis zum Untergang des Kölner Kurstaates im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses umfasst. Ausgenommen von dieser Erfassung sind nur die von ca. 1200 bis 1731 reichenden Urkunden, für die es im Staatsarchiv Münster ein eigenes Findmittel gibt. Doch damit nicht genug: Ein zweiter Band, der weitere Provenienzen und Pertinenzen des Territorialarchivs beinhaltet, ist bereits in Vorbereitung.
Die Qualität des vorliegendes Bandes erschließt sich, wie bei jedem guten Archivrepertorium, schon in der Einleitung, die neben dem erwähnten Literaturverzeichnis auch diverse Abbildungen und eine Karte beinhaltet: Müller legt nacheinander die Territorialgeschichte, die Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte sowie die Archivgeschichte des kurkölnischen Westfalen offen, das, wenn man heutige Verwaltungsgrenzen heranzöge, den Kreis Olpe, den Hochsauerlandkreis, Teile des Kreises Soest und des Märkischen Kreises umfasste.
Die einleitendenden Ausführungen beginnen mit der raumgreifenden Strategie der Kölner Erzbischöfe, die im 12. Jahrhundert die Weser- und Diemellinie zur neuen Außengrenze ihres Einflussbereiches machen wollten, verbunden mit der Aneignung herzoglicher Hoheitsrechte im südlichen Westfalen und in Engern. Wichtigster Baustein dafür war ab 1180 bekanntlich die südlich der Lippe gelegene territoriale Verfügungsmasse des entmachteten Welfenherzogs. Die weitere Darstellung verfolgt die neue Schwerpunktbildung in der Grafschaft Arnsberg seit dem späten 14. Jahrhundert (konkret ab 1368) bis zur konfessionellen Konsolidierung und zum Verwaltungsausbau im 17. und 18. Jahrhundert. Der Übergang des Herzogtums Westfalen an die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ab 1802 wird jedoch nicht mehr ausführlich thematisiert.
Erkennbar wird das virulente Eigenleben dieses wichtigsten kurkölnischen Nebenlandes, dessen inneres Gefüge, bestehend aus den Landständen und der Arnsberger Territorialverwaltung, gegen Ende des 15. Jahrhunderts voll ausgeprägt war. Der geschlossene Ständestaat mit seinen Quartalsstädten Brilon, Rüthen, Geseke und Werl, mit seinem Landdrosten, den Räten, dem Landtag, der Kanzlei, der (Ober-)Kellnerei in Arnsberg sowie dem Offizialat in Werl entwickelte in der Frühen Neuzeit deutliche Tendenzen, das Gängelband der kurfürstlichen Zentrale in Bonn abzustreifen (das Vest Recklinghausen, das zwischen Emscher und Lippe gelegene kurkölnische Ländchen, taucht im Inventar zwar in verschiedenen Überlieferungszusammenhängen auf, gehörte aber, wie Müller zu Recht erwähnt, verfassungsrechtlich nicht zum westfälischen Teil des Kölner Kurstaates).
Den Ausführungen über die Archivgeschichte entnimmt man Einzelheiten über die Flüchtung der Aktenbestände im 16. Jahrhundert, über frühe Registraturordnungen, verdienstvolle kurkölnische Archivare und älteste Schichten von Repertorien am Ende des 18. Jahrhunderts, von Aktenverlusten in der Säkularisationszeit, von rigorosen Kassationen in der Zeit nach 1815, schließlich auch von Beständeverlagerungen bzw. -bereinigungen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein weiteres Mal wird evident, dass die Jahre um 1800 schwerste materielle Verluste im deutschen Archivwesen verursacht haben. Von 1868 bis 1983 reicht schließlich die schrittweise Verlagerung der Arnsberger Altbestände ins Staatsarchiv Münster, das ja mit Gründung im Jahre 1829 seinen Sprengel über die gesamte Provinz Westfalen mit den Regierungsbezirken Münster, Minden und Arnsberg erstreckte. Nur noch ein geringer Teil der alten Beständetektonik befindet sich heute im Stadt- und Landständearchiv Arnsberg.
Des Weiteren wird erkennbar, dass die erfasste Quellenmasse ein kompliziertes "Konglomerat verschiedenster Provenienzen" darstellt, "die einer gänzlichen Neuordnung und Neuverzeichnung bedurften" (XXXIII), weil "die alte Verzeichnung reichlich ungenau, bisweilen sogar dürftig war und nicht immer dem Inhalt einzelner Akten gerecht wurde" (XLIII). Von Dürftig- und Ungenauigkeit kann nun wahrlich keine Rede mehr sein, aber noch der neue Ordnungszustand lässt dieses vermischte, vielschichtige Corpus aus diversen aktenbildenden Instanzen und Institutionen des Erzstiftes bzw. des Herzogtums erkennen.
Die Revision älterer Titelaufnahmen hat auch eine durchgehende Neuklassifikation des gesamten Schriftgutkomplexes nach sich gezogen, wodurch eine verbesserte (Pertinenz-)Ordnung entstand, die sich im Inventar über 40 'Kapitel' erstreckt. Letztere spiegeln die Zuordnung der Informationsträger zu einer begrenzten Zahl von Hauptbetreffen, übergreifenden Sachgebieten sowie landesgeschichtlich wichtigen Strukturen und Gegebenheiten. In nur wenigen Fällen blieben dabei die ursprünglichen registraturbildenden Dienststellen (Oberkellnerei Arnsberg, Schulkommission) sichtbar. Die Erschließungstiefe reicht je nach archivalischem Befund von zweizeiligen Kurzregesten bis zur mehrere Druckseiten umfassenden Analyse umfangreicher Aktenkonvolute, die durch zahlreiche Enthält- und Darin-Vermerke transparent gemacht wurden. Bei landesherrlichen Schreiben der Weisung, bei Verträgen, Gerichtsurteilen und Berichten, die ohne Einbettung in einen größeren Aktenkontext vorgefunden wurden, stößt Müller bis zur Datierung nach Jahr, Monat und Tag vor. Benutzerfreundlich ist die Ausweisung der Bestellsignaturen (einfache Ziffern auf Grundlage einer der Klassifikation vorausgehenden Durchzählung des Gesamtbestandes, bei fortlaufender Lektüre des Inventars als Springnummern erscheinend). Guter archivarischer Brauch ist es übrigens auch, bestandsgeschichtlich relevante Altsignaturen nicht zu unterdrücken; dementsprechend tauchen diese am jeweiligen Ende der Verzeichnungseinheiten auf.
Einige Bemerkungen zum umfangreichen zweiten Hauptbetreff des Inventars: "Beziehungen zu anderen Territorien" (5-124). Die zerklüfteten und unübersichtlichen Außengrenzen des Herzogtums Westfalen kreuz und quer durch verkehrsarme Mittelgebirgsregionen führten zu Grenzstreitigkeiten mit zahlreichen Nachbarländern. Nach dem Motto 'Frieden durch Recht' wurde dafür der Rechtsweg beschritten: Nicht von ungefähr haben sich zahlreiche forensische Vorgänge, d.h. juristische Auseinandersetzungen, Streitigkeiten, Klagen und Vergleiche erhalten (darunter auch viele um die buchstäblich 'umstrittene' Exklave Volkmarsen). Offenbar war es dem Bearbeiter aber nur in einigen Fällen möglich, die jeweilige Gerichtsinstanz und die Kläger- und Beklagtenrolle zweifelsfrei zuzuweisen. Man kann daher nur vermuten, dass dieses prozessuale Schriftgut meist im Zusammenhang mit streitigen Vorgängen am Reichskammergericht, am Reichshofrat oder deren Justizkommissionen steht. Die so von Müller erschlossenen Parteiakten sind eine wertvolle komplementäre Überlieferung zu einschlägigen Prozessakten der Reichsgerichtsbarkeit in Speyer/Wetzlar oder Wien.
Findmittel von der Qualität dieses Inventars sind mehr als nur Arbeitsinstrumente für archivisches Aktenstudium, sie sind Teil der Forschungsgeschichte eines historischen Schriftgutkomplexes, manchmal sogar Grundlage und Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Archivcorpus - man denke nur an die Bedeutung der gedruckten Findbücher, die aus der DFG-geförderten Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten hervorgegangen sind. Ein ähnliches Echo ist auch der Neuverzeichnung des Territorialarchivs zu wünschen. Der vorliegende Band, dessen Folgewerk schon bald zu erwarten ist, stellt unzweifelhaft ein von nun an unverzichtbares Vademecum für die westfälische Landesgeschichte dar.
Anmerkungen:
[1] Toni Diederich, in: Ders. und Ulrich Helbach (Red.): Das Historische Archiv des Erzbistums Köln: Übersicht über seine Geschichte, Aufgaben, Bestände, erstellt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Historischen Archivs des Erzbistums Köln. Siegburg 1998, S. 13.
[2] Vgl. hierzu auch Mechthild Black-Veldtrup u.a. (Bearb.): Die Bestände des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen Staatsarchiv Münster, erweiterte Neubearbeitung, 4. Auflage, Münster 2004.
Matthias Kordes