Stephan Scholz: Der deutsche Katholizismus und Polen (1830-1849). Identitätsbildung zwischen konfessioneller Solidarität und antirevolutionärer Abgrenzung (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 13), Osnabrück: fibre Verlag 2005, 430 S., ISBN 978-3-938400-02-9, EUR 35,00
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In den 1980er-Jahren konnte man kaum erahnen, in welchem Ausmaß religionsgeschichtliche Problemstellungen in die allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Forschungslinien zur modernen Zeit bald schon und so nachhaltig eindringen würden. Die erklärten Ablehnungen und stillschweigenden Missachtungen insbesondere in der damals dominierenden Sozialgeschichtsschreibung (west-)deutschen Zuschnitts sind wohl teils noch erinnerlich und können in manchen Standardwerken dieser Provenienz leicht nachgelesen werden.
Rund anderthalb Jahrzehnten später darf man durchaus von einer "religionsgeschichtlichen Wende" als mitprägendem Moment innovativer kulturhistorischer Thematisierungen und sogar von einem christentumsgeschichtlichen "Publikationsboom" [1] sprechen. Die vorliegende Untersuchung zeugt von dieser Entwicklung, indem sie ihre Perspektiven von Fundamenten her auszuziehen versteht, wie sie letzthin unter anderem von Bernhard Schneider und Matthias Klug zur weltanschaulich-politischen und publizistischen Entwicklung des deutschen vormärzlichen Katholizismus gelegt worden sind. [2] Das einmal festgestellt, ist allerdings vor gewissen Überhitzungen zu warnen, welche womöglich nicht zuletzt durch die noch stets zunehmende Zahl christentumsgeschichtlicher Arbeiten verursacht werden könnten. Stephan Scholz ist jedenfalls zuzustimmen, wenn er erneuter Ausblendung religiöser und konfessioneller Motive in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts [3] widerspricht. Das gilt ebenso für die modische Behauptung eines "zweiten konfessionellen Zeitalters" [4], wo es doch im Ernst um Rekonfessionalisierungen in Horizonten durchgreifender Modernisierung und Verdiesseitigungen geht, oder die These politisch bestimmter neuer Konfessionsbildung quer durch die großen Kirchen. [5]
Selbstverständlich bietet Scholz' Studie, die leicht überarbeitete Fassung einer von Hans Henning Hahn betreuten Oldenburger Dissertation von 2004, neue Striche zu dem, was in der älteren Literatur als Geschichte des deutschen Polenbildes geführt worden ist, damals im Hinblick auf differenzierende Beleuchtungen des deutschen Nationalismus [6], auf die Ursprünge deutsch-polnischer Konfrontation in der Epoche der Weltkriege, auf frühere Gemeinsamkeiten im Kampf gegen die vormärzliche Ordnung. Hervorzuheben ist dabei die schlüssige Beschreibung eigenständiger katholischer Positionen im Zeichen der revolutionären Wendepunkte polnischer Geschichte zwischen den europäischen Revolutionen von 1830 und 1848: des antirussischen Aufstandes in Kongresspolen 1830/31, der gleich im Ausgangspunkt Krakau 1846 gescheiterten nationalen Erhebung, der Geschehnisse im preußischen Großherzogtum Posen nach der Märzrevolution - eigenständiger Positionen, welche lange übliche schlichte Zuordnungen zu generell konservativen Einstellungen und Parteinahmen trotz mancherlei Kongruenzen obsolet erscheinen lassen. Die hier erreichte Plausibilität beruht auf der Erledigung der selbstgestellten Hauptaufgabe, entlang der vormärzlichen Auseinandersetzung mit den Problemen der fremdbeherrschten katholischen Polen erstens exemplarisch den Verlauf des "innerkatholischen Kulturkampfs" (375) zu modellieren und zweitens die weltanschaulichen Essentials der schon seit Mitte der 1830er-Jahre klar beherrschenden ultramontanen Richtung auf dem Weg des deutschen Katholizismus vom zunächst eher lockeren "Kommunikationszusammenhang" (31) zur Sozialform zu analysieren.
Zu diesem Zweck hat Scholz rund 30 katholische Presseorgane sowie die wichtigsten zeitgenössischen Bücher und Broschüren aus der Feder katholischer Autoren ausgewertet. Wenig überzeugend sind indes die vom Verfasser angeführten Gründe dafür, gemäßigte Liberale wie Karl von Rotteck zusammen mit Ignaz Heinrich von Wessenberg oder den ganz unbeachteten Ernst von Münch: alle in den 1830ern viel gelesen, auch mit ihren intelligenten Stellungnahmen zum Polenproblem, nicht zu berücksichtigen. Verkürzt gesagt, ergibt sich als genereller Befund, dass es im katholischen Lager kaum Verständnis für polnische Versuche gegeben hat, Fremdherrschaft gewaltsam abzuschütteln. Das gilt rundum für die ultramontane Presse. Die deutschen Ultramontanen haben von Anfang an die Ideen Lamennais' ebenso wie dessen Sympathie für den polnischen Aufstands von 1830/31 abgelehnt, wobei die Verurteilungen sowohl der polnischen Erhebung als sehr bald auch der ultramontanen freiheitlichen Lehren des französischen Priesters durch den neuen Papst Gregor XVI. [7] offensichtlich weniger bestimmend als vielmehr unterstützend gegen die wenigen abgewogeneren Stimmen in der katholischen Publizistik gewirkt haben.
Ebenso wenig brauchte es die von Scholz recht spannend beschriebenen Wiener Einflussnahmen, um namentlich den Münchener Görreskreis gegen die Krakauer Aufständischen von 1846 aufzubringen, zumal es dabei um das Fundament der katholischen Vormacht Österreich ging. Weder Einwände polnischer Emigranten noch Interventionen anders gesinnter französischer Ultramontaner wie Montalembert konnten diese Grundlinie durchbrechen. Im Gegenteil, die Katholizität des polnischen Volks wurde als Versicherung legitimer Herrschaft gegen kirchenfeindliche bürgerliche und aristokratische Nationalrevolutionäre akzentuiert, dies bekanntlich in Erinnerung an Vorgänge während der Französischen Revolution und des napoleonischen Empire, aber unter Aufnahme neuester päpstlicher Verlautbarungen und in Vorwegnahme etwa der antirisorgimentalen österreichischen Propaganda in Oberitalien seit dessen Rückeroberung im Sommer 1848. [8]
Indessen entwickelten sich von dieser grundsätzlich antirevolutionären Grundlinie her auch katholische Eigenständigkeiten zwischen dem konservativen Mainstream und den großen oppositionellen politischen Strömungen. Es gerieten die Regierungen in Petersburg und Berlin wegen ihrer antikatholischen Grundhaltungen und Maßnahmen in offene Kritik, weil sie damit ja selbst revolutionären Zündstoff anhäuften und sich mit der ultramontan aufgestellten Kirche ihrer wohl sichersten Stütze beraubten, ja, die gläubigen polnischen Massen genauso wie die Katholiken anderswo durch religiöse wie kulturelle Unterdrückung gegen ihre legitime Herrschaft aufbrachten. Daher konnten dann sogar die Revolutionen von 1848 als auch gouvernemental provozierte Wendepunkte im göttlichen Heilsplan wennschon nicht begrüßt, so doch als Chance der Kirche und des Kirchenvolks angenommen werden, zumal ja auch der Nachfolger Gregors, Papst Pius IX., Wege zur Versöhnung mit den freiheitlichen Bewegungen zu suchen schien. Jetzt erfuhr sogar das polnische Ziel einer staatlichen Wiedergeburt gelegentlich Fürsprache. Und deutsche Teilungspläne Posens zuungunsten der Polen trafen im Kreis der katholischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung und in der katholischen Presse auf mehrheitliche Ablehnung.
Dabei wurde dem das "tolle Jahr" beherrschenden deutschen Nationalstaatsmodell ein übernationales, aber deutsch geführtes, die kleineren Nationen schützendes und erhaltendes Modell gegenübergestellt, verstanden als Wiedergeburt des Alten Reichs, großdeutsch als Erneuerung des früheren habsburgischen Kaisertums, mehrheitlich katholisch. [9] Das war nicht anational, wie das von kleindeutschen Politikern, Publizisten und Zeithistorikern behauptet worden ist, sondern eben eine andere deutsche Nationalidee, begründet im nunmehr ultramontan gehegten Interessenfeld des katholischen Deutschland. Scholz' Untersuchung zeigt, dass es allerdings eine Art internationale ultramontane Vernetzung schon im Vormärz gegeben hat, aber keine, um auf ein zukünftiges böses Wort vorzugreifen, "schwarze Internationale".
Anmerkungen:
[1] Urs Altermatt: Plädoyer für eine Kulturgeschichte des Katholizismus, in: Karl-Joseph Hummel (Hg.): Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn 2004, 169-187, 170 f.
[2] Bernhard Schneider: Katholiken auf die Barrikaden? Europäische Revolutionen und deutsche katholische Presse 1815-1848, Paderborn 1998; Matthias Klug: Rückwendung zum Mittelalter. Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn 1995. Zur älteren Forschung vgl. Hans Maier: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, 3. Aufl. München 1973 (zuerst 1959).
[3] So Carsten Kretschmann / Henning Pahl: Ein "Zweites Konfessionelles Zeitalter"? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: HZ 276 (2003), 369-392.
[4] Vgl. Olaf Blaschke: Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: GG 26 (2000), 38-75.
[5] So die Antithese von Kretschmann / Pahl (wie Anm. 3).
[6] Beispielsweise Eberhard Kolb: Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zu Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz, in: Saeculum 26 (1975), 111-127, erwähnt.
[7] Neuerdings von Rudolf Lill: Die Macht der Päpste, Kevelaer 2006, 81-86, scharf als heillose säkulare Wende in die "autoritäre Defensive" gekennzeichnet.
[8] Vgl. Alan Sked: The survival of the Habsburg Empire. Radetzky, the imperial army and the class war, 1848, London 1979.
[9] Vgl. dazu Thomas Brechenmacher: Großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert. Die erste Generation 1830-48, Berlin 1996. Zur Verbindung mit handfesten wirtschaftlichen und sozialen Überlegungen vom Verfasser: Deutsche Nation und Habsburger Monarchie. Die Entstehung des Mitteleuropa-Gedankens vor 1848, in: Luigi Cotteri (Hg.): Die Einheit Europas. Das Problem der Nationalitäten, Meran 1991, 279-301.
Wolfgang Altgeld