Arnd Bauerkämper / Christiane Eisenberg (eds.): Britain as a Model of Modern Society? German Views (= Arbeitskreis Deutsche England-Forschung; Bd. 56), Augsburg: Wißner 2006, 260 S., ISBN 978-3-89639-575-7, EUR 30,00
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Spätestens seit dem 18. Jahrhundert schauten gebildete, weltoffene Deutsche nach Großbritannien; Briten allerdings seltener nach Mitteleuropa. Dessen staatliche Organisation und wirtschaftliche Rückständigkeit gaben ihnen verständlicherweise bis 1866/71 Rätsel auf. Danach nahm das Interesse der Briten an den deutschen Verhältnissen allmählich zu. Auf der deutschen Seite wurden hingegen mit großer, eigentlich nie nachlassender Aufmerksamkeit politische und ökonomische Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland registriert, Ähnlichkeiten der Gesellschaften beiderseits des Ärmelkanals festgestellt, Anregendes und Nachahmenswertes, Kuriosa und Absonderlichkeiten notiert. Darüber entstand eine eigene Literaturgattung, meist in der Form von Reiseberichten, tatsächlichen oder fiktionalen. Aber auch seriöse wissenschaftliche Untersuchungen wurden in großer Zahl veröffentlicht. Deren thematischer Bogen spannte sich von Beschreibungen des Londoner Parlaments und seiner historischen Entwicklung bis hin zur Organisation des "englischen Hauses", zu Schilderungen der Zustände in den englischen und schottischen Industriegebieten wie auch der Rituale des "five o'clock tea" und der Renntage von Ascot.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die Anglomanie in Deutschland ihren Scheitelpunkt. Der Literaturhistoriker und Publizist Karl Hillebrand, dessen Englandbuch von 1876 ("Aus und über England") Peter Wende mit guten Gründen zitiert, meinte daher, jeder gebildete Deutsche wisse schon ziemlich genau, wie es in England zugehe, ehe er überhaupt in Dover oder Harwich die Insel zum ersten Mal betreten hat. Und die englische Geschichte sei ihnen sowieso "immer ein bewundertes Vorbild gewesen". Damit traf er den Nagel auf den Kopf.
In seinem souveränen Überblick über "Models of Britain for Nineteenth-Century Germany" erinnert Wende auch an den deutschen Journalisten Heinrich Beta, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Berichte aus London in der viel gelesenen "Gartenlaube" zum "Nutzen, zur Belehrung und zum praktischen Gewinn" für die Leser daheim schrieb. Waren Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Großbritanniens wirklich ein Vorbild für die Deutschen, die im frühen 19. Jahrhundert den Zug in die Moderne offensichtlich verpasst hatten und am Ende des 20. Jahrhunderts angesichts der Krise ihres so gepriesenen Sozialstaates und einer lahmenden Wirtschaft im Lande Margaret Thatchers nach Auswegen und Lösungen suchten (Dominik Geppert, The Crisis of the Welfare State: Thatcherism as a Model for German Christian Democracy)?
Dass Großbritanniens parlamentarisches und halbwegs demokratisches Regierungssystem bis zum Ende des autoritären Deutschen Kaiserreichs für liberale und fortschrittlich gesinnte Deutsche eine Vorbildfunktion besaß, ist unbestritten. Doch selbst noch in den Debatten des Parlamentarischen Rates spielte 1948/49 das Westminster-Modell, wenngleich meist nur indirekt und unbewusst, eine Rolle. Auf das Paradoxon weist Marie-Luise Recker hin ("Westminster as a Model? The Parlamentarische Rat on the Way to the Basic Law 1948 - 49"). "The Germans had not sought the British model," schreiben die Herausgeber, "but had found it nonetheless" (17). Auch bei der Regelung anderer Lebensbereiche schauten die Deutschen über Jahrzehnte gern nach der Insel. Eindrucksvolle Beispiele dafür sind die neuen Methoden der Werbung und der Public Relations in den 1920er Jahren (Corey Ross, Projecting England, Selling Germany: Propaganda, Public Relations and Advertising after the First World War) oder das Phänomen der außerparlamentarischen Protestbewegungen in den späten 1950er und in den 1960er Jahren (Holger Nehring: Britain as the Cradle of Extra-Parliamentary Protests?).
Vom Musikleben auf der Insel hielten die deutschen Konzertbesucher im 19. Jahrhundert allerdings nicht allzu viel - "pride and prejudice", aber auch schiere Ignoranz ließen, wie Sven Oliver Müller in einem originellen Beitrag aufzeigt, den Spruch vom "Land ohne Musik" zur oft wiederholten Phrase werden ("Friction, Fiction and Fashion: German Perceptions of Music Life in Britain in the 'Long Nineteenth Century'"). Den interessanten Fall, dass Großbritannien nur einmal für kurze Zeit den Deutschen als Vorbild diente, behandelt Christiane Eisenberg. Selbst für denjenigen, bei dem weder Cricket noch Fußball übermäßiges Herzklopfen auslöst, ist ihr Essay über die deutsch-britischen Sportbeziehungen eine ebenso lehrreiche wie amüsante Lektüre ("'Not Cricket!' Sport in Germany, or How the British Model Fell into Oblivion").
Resümierend stellen die Herausgeber zu Recht fest, dass alle Debatten über Vorbilder und Modelle im Wesentlichen die Funktion haben, Anregungen zu geben und den eigenen Horizont zu erweitern. Das gelte geradezu modellhaft für den deutsch-britischen Fall. Flexibilität und Diskretion sei angesagt, wenn vom Vorbildcharakter eines anderen Landes die Rede ist. Konkrete Empfehlungen für eine sklavische Nachahmung des dort Gesehenen oder Erfahrenen seien kontraproduktiv. Diese Einsicht, oft vergessen oder leichtfertig missachtet, kommt praktisch in allen Beiträgen des Bandes mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. Die hinlänglich bekannte Behauptung, man könne "vom anderen" lernen, ist jedenfalls nur bedingt zutreffend. Aber "den anderen" und seine Lebenswelt studieren und ihn zu verstehen suchen, ist allemal nützlich, ja erhellend und inspirierend für das eigene Wollen, Planen und Tun - und das nicht nur im bilateralen deutsch-britischen Verhältnis.
Peter Alter