Rezension über:

Nimat Hafez Barazangi: Woman's Identity and the Qur'an: A New Reading, Gainesville, FL: University Press of Florida 2004, 192 S., ISBN 978-0-8130-2785-2, USD 59,95
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Rezension von:
Nilden Vardar
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Nilden Vardar: Rezension von: Nimat Hafez Barazangi: Woman's Identity and the Qur'an: A New Reading, Gainesville, FL: University Press of Florida 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/13494.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 7/8

Nimat Hafez Barazangi: Woman's Identity and the Qur'an: A New Reading

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Nicht erst seit dem 11. September 2001 und der Debatte um das Kopftuch in Deutschland sowie in Frankreich wird der Islam als eine Bedrohung wahrgenommen. Ständig entstehen neue Schreckensszenarien über die Machtbestrebungen von Muslimen in Europa, und Stimmen der Befürchtung, dass der Islam die Vorherrschaft erlangen könnte, werden immer lauter. Das gegenwärtige Islambild in Europa ist vorwiegend ein archaisches und von Gewalt und Unterdrückung geprägtes Feindbild. In der damit einhergehenden Diskussion um die Gefährdung der westlichen Demokratie, der Menschenrechte und der persönlichen Freiheiten spielt nicht zuletzt die Unterdrückung der Frau eine große Rolle und ist eins der am häufigsten problematisierten Themen auf der Agenda.

Das vorliegende Buch "Woman's Identity and the Qur'an. A New Reading" von Hafez Nimet Barazangi ist mehr als eine Antwort auf jene Polemiker und Skeptiker. Die Autorin möchte in ihrem Buch belegen, dass der Islam dem Westen zivilisatorisch nicht hinterherhinke, sondern dass der qur'anische Ansatz, gerade was die Genderfrage betreffe, weitaus fortschrittlicher sei. Speziell die muslimischen Frauen, so die Autorin, seien seit jeher von der Qur'anexegese ausgeschlossen gewesen - bis auf den heutigen Tag. Die zentrale Botschaft des Buches ist ein Aufruf an alle Muslime, Frauen wie Männer gleichermaßen, den Qur'an "neu" zu lesen. Hierzu führt die Verfasserin eine eigene Art des "pedagogical reading" des Qur'ans ein, "that involves a process of making the learner aware of and able to theorize on Qur'anic principles and to distinguish these principles from a knowledge of the Qur'anic rules in order to faciliate interpretations and the conditions for their application." Durch diese Lesart sollen qur'anische Prinzipien herausgefiltert, zeitgemäß interpretiert und im Alltag lebbar und anwendbar werden, wodurch, so Barazangi, die qur'anische (Geschlechter-)Gerechtigkeit sich auch in der sozialen Realität widerspiegeln würde.

Die Autorin ist muslimische Amerikanerin syrischer Herkunft und Erziehungswissenschaftlerin. Sie arbeitete einige Zeit als Forschungsbeauftragte und Direktorin am Center for the Study of Islam and Democracy an der Cornell University in Washington und forscht und publiziert schwerpunktmäßig auf den Gebieten Islamic Higher Learning und Muslim Women's Self-Identity.

Das zu besprechende Werk ist in fünf Kapitel eingeteilt, denen eine Einleitung in die Thematik vorangestellt ist. Es schließt mit einem Fazit, in dem die Verfasserin weitergehende Forschungsfelder zum Thema aufzeigt und ihre politisch-gesellschaftlichen Forderungen darlegt, die sie aus ihrer vorangegangen Analyse ableitet. Spätestens an dieser Stelle verlässt sie das Terrain der beobachtenden Wissenschaftlerin und formuliert klare Handlungsanweisungen, die sich aus ihrer Forschung ergeben und auf die im Folgenden eingegangen wird.

Barazangi sieht die muslimische Frau generell im Dilemma zwischen dem theoretischen islamischen Weltbild, das als logisch und gerecht angenommen wird und der ungerechten und repressiven sozialen und gesellschaftlichen Realität in der sich die qur'anische Gerechtigkeit keineswegs widerspiegelt. Dieses Dilemma kann nach der Autorin solange nicht aufgelöst werden, bis die muslimische Frau ein gefestigtes islamisches Selbstverständnis entwickelt, das in der autonomen und rationalen Auseinandersetzung mit dem Qur'an entstehen muss.

Barazangi stellt fest, dass seit Anbeginn die göttliche Offenbarung und der erste Auftrag, darin zu lesen (Sure 96, Verse 1-2), von (männlichen) Exegeten missbraucht worden ist. Dieser Auftrag des "Wissenserwerbs", der an Frauen wie Männer gleichermaßen gerichtet ist, wurde stets ignoriert und schloss Frauen somit von der Exegese der göttlichen Texte aus. Daher wurden Frauen auch vom qur'anisch vorgeschriebenen, gemeinschaftlichen Konsultationsinstrument, der š ūrā (Sure 42, Vers 38), ferngehalten und folglich von der Mitbestimmung ihrer Angelegenheiten als Musliminnen abgehalten. Einher ging damit die fatale Entwicklung, dass Frauen die ausschließlich männlich geprägte Auslegung des qur'anischen Textes als ebenso authentisch und verbindlich annahmen wie die göttliche Quelle selbst. Nicht zuletzt gipfelt dies nach Barazangi in der Erkenntnis, dass Frauen durch die Jahrhunderte hinweg ihrer religiösen Identität und ihrem islamischen Selbstverständnis beraubt worden sind.

Im zweiten Kapitel veranschaulicht die Autorin anhand der Schöpfungsgeschichte die Gleichwertigkeit und Gleichstellung der Geschlechter nach dem islamischen Menschenbild. In der Analyse des Qur'anverses 4:1 kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Menschen aus einer Einheit - nafs wāhidah - erschaffen worden sind, was in dem Vers eine grammatikalisch weibliche Konstruktion vorweist. Die Konsequenz aus dieser Gleichwertigkeit ist, so Barazangi, die Verpflichtung der muslimischen Frau, sich an der verstandesmäßigen Interpretation des Qur'ans zu beteiligen.

An der islamisch-feministischen Theologie kritisiert Baranzangi, dass diese Forscherinnen sich oftmals nur mit bestimmten genderrelevanten Teilen und Themen des Qur'ans auseinandersetzen. Das reicht für Barazangi jedoch bei weitem nicht aus, um die gleichberechtigte Partizipation an der Auslegung auch in der gesellschaftlichen Realität dahingehend abzubilden, dass Frauen gleichermaßen an Entscheidungs-, Führungs- und Autoritätspositionen vertreten sind. Hierfür ist es aus ihrer Sicht notwendig, dass Frauen sich mit dem Qur'an als Ganzes beschäftigen.

Als eine Grundvoraussetzung für die neue Neuauslegung des Qur'ans sieht die Autorin die moralisch-ethische Unabhängigkeit. Hiermit befassen sich daher das dritte und vierte Kapitel des Buches. Barazangi erklärt, dass über die Jahrhunderte hinweg viele Begriffe männlich geprägt und - bewusst oder unbewusst - zum Nachteil der Frauen falsch ausgelegt worden sind. So haben männliche Theologen beispielsweise den Begriff der Vormundschaft stets als die männliche Vormundschaft über die Frau im ethischen, politischen und im familiären Bereich aufgefasst, welche den qur'anischen Prinzipien der gegenseitigen Verantwortlichkeit der Geschlechter (Sure 9, Vers 71) entgegensteht. Des Weiteren stellt sie fest, dass der Begriff der Frömmigkeit stets mit Schweigen (der Frau) gleichgesetzt worden ist und man Bescheidenheit, insbesondere was Kleidung betrifft, immer als limitierender, die Frau beschneidender Faktor ausgelegt hat.

Die eigentliche Stärke des Buches, abgesehen von den visionären Gedanken in den ersten vier Kapiteln, liegt jedoch im fünften, praxisbezogenen Abschnitt. Hier entwirft die Autorin einen integrativen curricularen Rahmenplan des "Self-Learning of Islam (S-LI)", anhand dessen Muslime, insbesondere muslimische Frauen, befähigt werden sollen, einen unabhängigen, eigenständigen Zugang zum qur'anischen Text und seiner Dynamik zu erlangen. Dies soll eine Umwälzung und Neudefinition von islamischem Lernen, Wissen und Lehren bewirken, wobei der "Lernende" selbst im Mittelpunkt steht. Die daraus resultierende handlungs- und anwendungsorientierte Neuauslegung des Qur'ans soll sich auf allen - der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen - Ebenen des Lebens bemerkbar machen und die qur'anische Gerechtigkeit widerspiegeln. Konsequent zu Ende gedacht, käme dies wohl einem Paradigmenwechsel gleich und würde eine neue islamische Weltsicht etablieren.

Das Buch ist das Ergebnis sowohl jahrelanger Forschungsarbeit auf dem Gebiet der pädagogischen Textanalyse des Qur'ans als auch aktiver Arbeit in muslimischen Frauen-Grassroots-Organisationen. Die bisherige Arbeit der Wissenschaftlerin wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit den Glock Award vom Department of Education der Cornell University. Darüber hinaus erhielt sie bereist zweimal ein Forschungsstipendium für Syrien vom Development Programm der Vereinten Nationen. Die Kompetenz, die aus der praktischen Erfahrung der Autorin im Zusammenhang mit dem Thema resultiert, vermittelt das Buch durchgehend. Ein Manko ist der schwer erschließbare akademische Sprachstil, in welchem das Buch geschrieben ist. Gerade weil es in einem sehr akademischen Englisch gehalten ist, wird es wohl leider die Mehrheit der Frauen, an die die revolutionäre Botschaft gerichtet ist, nicht erreichen. Eine formal klarer strukturierte Gliederung hätte ebenfalls zur leichteren Lesbarkeit und Zugänglichkeit des Buches beigetragen.

Weiter fällt auf, dass Barazangi in ihrem Buch, trotz des akademischen Sprachstils, wichtige islamwissenschaftliche Begriffe - wie beispielsweise iǧtihād und iǧmā nicht sauber definiert. Nicht zuletzt dürfte die studierte Erziehungswissenschaftlerin ein Legitimationsproblem gegenüber sowohl westlichen Wissenschaftlern als auch Theologen aus der islamischen Welt damit haben, dass sie sich auf das islamwissenschaftliche Feld der Qur'anwissenschaften begibt und dessen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht in vollem Maße gerecht wird. Dennoch fallen diese Punkte, angesichts der Bedeutung der Message, die sie vermitteln will, nicht sehr schwer ins Gewicht. Denn es gelingt ihr, das Kernproblem von "Woman's Identiy and the Qur'an" umfassend und mit analytischem Geschick darzulegen. Baranzangi reiht sich mit ihrem Werk in eine Generation von Wissenschaftlern und Exegeten ein, die eine Neuauslegung des Qur'ans für notwendig erachten und fordern. Dabei bleibt sie jedoch nicht bei diesem Schritt stehen, sondern erhebt Ansprüche und Forderungen, die gegenwärtige Machtstrukturen in Frage stellen und grundlegende soziale und politische Umwälzungen implizieren.

Nilden Vardar