Ewald Grothe: Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 16), München: Oldenbourg 2005, 486 S., ISBN 978-3-486-57784-6, EUR 64,80
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Ewald Grothe (Hg.): Ludwig Hassenpflug. Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums 1850-1855, Marburg: Elwert 2008
Bernd Heidenreich / Ewald Grothe (Hgg.): Kultur und Politik - Die Grimms, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 2003
Hartwig Brandt / Ewald Grothe (Hgg.): Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1815-1870, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005
Über die Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus wird erst seit den 1990er-Jahren intensiver debattiert. Die Wuppertaler Habilitationsschrift von Ewald Grothe schließt an diese Untersuchungen an und füllt mit der Analyse der Verfassungsgeschichtsschreibung eine wichtige Lücke im interdisziplinären Bereich zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft. Eine der Stärken der Arbeit von Grothe ist die langfristige Betrachtungsweise ab 1900 bis zum Beginn der 1970er-Jahre, sodass Kontinuitäten und Brüche der Wissenschaftsgeschichte in diesem Bereich gut herausgearbeitet werden können.
Die Untersuchung gliedert sich in sieben Kapitel: Nach einer Einordnung in den Forschungskontext folgt ein Kapitel zum Begriff der Verfassung und zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte. Anschließend geht der Autor chronologisch vor, wobei er sich insbesondere drei wichtigen Verfassungshistorikern - Otto Hintze, Fritz Hartung und Ernst Rudolf Huber - zuwendet, ohne dass andere prägende Personen wie Meinecke, Forsthoff, Carl Schmitt oder Otto Brunner aus dem Blick gerieten; insgesamt konzentriert er sich auf diejenigen Verfassungshistoriker, die sich der Neuzeitforschung verpflichtet fühlten .
In den Kapiteln zum späten Kaiserreich und der Weimarer Republik zeichnet Grothe die Ausnahmestellung Otto Hintzes nach - im Unterschied zu Wolfgang Neugebauer und ähnlich wie Ernst Schulin datiert er den grundlegenden Wechsel in Hintzes Arbeiten trotz der bis 1897 zurückverfolgbaren Vorüberlegungen mit dem Jahre 1926, denn erst aufgrund der deutlichen Rezeption der Arbeiten Max Webers schuf Hintze seine europäisch, teilweise auch weltweit vergleichenden historischen Typologien des Feudalismus, der ständischen und repräsentativen Verfassungen und des modernen Staates. [1] Gleichzeitig zeigt Grothe aber auch, dass diese innovativen Ansätze in Deutschland in dieser Zeit auf keinen fruchtbaren Boden fielen, sondern sich stattdessen eine staatszentrierte Verfassungsgeschichtsschreibung im Stile von Fritz Hartung durchsetzte.
Am spannendsten lesen sich die genau recherchierten Kapitel zum Aufstieg des Juristen Ernst-Rudolf Huber zum führenden Verfassungshistoriker der NS-Zeit. Huber, der 1926 bei Carl Schmitt promovierte und an dessen Seite 1932 im Prozess vor dem Reichsgericht um den Preußenschlag die Interessen des Reiches vertrat, teilte dessen Ablehnung des Rechtspositivismus: Bereits hier zeigte sich die Haltung, dass die verfassungsmäßige Legalität mit ihren formaljuristischen Rechtsregeln zugunsten einer neuen Legitimität durchbrochen werden sollte. Nach 1933 füllten beide Staatsrechtler die Inhalte dieser Legitimität ganz im Sinne der neuen nationalsozialistischen Machthaber aus. Diese Verachtung des Rechts zeigte sich am deutlichsten bei Carl Schmitts nachträglicher juristischer Rechtfertigung der Morde während des 'Röhm-Putsches' mit seinem Aufsatz "Der Führer schützt das Recht". Direkt nach dem Text von Schmitt findet sich ein Artikel von Huber, auf den Schmitt bewusst verweist, da Huber hier die von Schmitt propagierte Überwindung der Gewaltenteilung durch das Führertum inhaltlich ausfüllt. [2] Drei Gründe betont Grothe für die Funktionalisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus (305 ff.) besonders nachdrücklich: Erstens das persönliche Interesse der Forscher mit entsprechendem wissenschaftspolitischem Einfluss mithilfe von Kontakten in die Ministerien und der Ausrichtung von Zeitschriften als Herausgeber; zweitens die Reform der juristischen Studienordnung von 1935, in deren Gefolge es gelang, die Verfassungsgeschichte als wichtiges Grundlagenfach innerhalb des Vorlesungskanons zu etablieren mit der Folge, dass entsprechende Grundrissdarstellungen zu diesem Thema verfasst werden mussten; drittens erhofften sich die nationalsozialistischen Machthaber von der "gezielten Historisierung des juristischen Studiums zusätzliche Legitimationsmöglichkeiten" (306).
Die radikale Kritik an der formalrechtlichen Definition der Verfassung führte zur Herausdrängung des Elements des Rechts aus dem Verfassungsbegriff, der sich durch die Hinwendung zum nationalsozialistischen verstandenen "Volk" gleichzeitig den gesellschaftlichen Elementen der Verfassung öffnete. Huber versuchte dabei, den Begriff des Staates nicht dem Volk unterzuordnen, sondern sah den Staat als Herrschaftsordnung des politischen Volkes (218 f.). Den entscheidenden Schritt zur Rezeption dieses weiten Verfassungsbegriffs in die Geschichtswissenschaft vollzog dann Otto Brunner ab 1937, wobei er sich ausdrücklich auf Huber und C. Schmitt bezog (227 ff.). Dementsprechend arbeitet auch Grothe bei seiner "operationablen Arbeitsdefinition" (17) für die Untersuchung mit dem weiten Verfassungsbegriff ohne ausdrücklichen Rechtsbezug, obgleich er natürlich um die heutigen Definitionen weiß (42).
Wie verlief Hubers Karriere nach 1945? Im Unterschied zu vielen Juristen, die sich ebenfalls stark für den Nationalsozialismus engagiert hatten und nichtsdestotrotz relativ rasch wieder auf Lehrstühle an bundesdeutschen Universitäten zurückkehrten, gelang es Huber erst 1957 wieder, eine Position an einer wissenschaftlichen Hochschule zu erlangen. Wie beurteilte Huber nun im Rückblick sein Verhalten in der Zeit zwischen 1933 und 1945? Möchte man sich zu dieser Frage genauer informieren, muss man statt zu der hier besprochenen Monografie zu einem Aufsatz von Ewald Grothe aus dem Jahre 2005 greifen - das ist schade, denn diesen Aufwand wird nicht jeder Leser betreiben wollen, der sich rasch zu dem Themenkreis informieren möchte. Im Rahmen eines Treffens der Jugendbewegung 1948 versuchte er eine Neubesinnung, gestand eine Mitverantwortung ein und schrieb an Carl Schmitt kurze Zeit später, dass man "nachträglich realisieren müsse, was das 'dritte Reich' als Vernichtungssystem effektiv bedeutet hat" - sicherlich erfolgte diese Reflexion weitgehend im Privaten, aber sie war mehr als etliche andere belastete Wissenschaftler nach 1945 vorlegten. [3] Ab 1957 legte Huber dann seine achtbändige monumentale Deutsche Verfassungsgeschichte für die Zeit von 1789 bis 1933 vor. Der Staat als zentraler Ordnungsfaktor blieb erhalten, auch der weite Verfassungsbegriff, der nunmehr aber wieder um die Dimension des Rechts ergänzt wurde - bezeichnenderweise enthält Hubers Verfassungsgeschichte zwar die Wirtschafts-, Sozial- und Bildungsgesetzgebung, aber die Grundrechte fehlen als methodischer Zugang komplett. Dass Huber der neuen Bundesrepublik gedient und sie gerechtfertigt habe, wie Reinhard Mehring meint, scheint dann doch angesichts der umfassenden Analyse Grothes eine deutlich zu positive Einschätzung. [4]
Wichtig wurde die Position Hubers in der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Kontroverse mit Ernst-Wolfgang Böckenförde in den 1960er- bis 1980er-Jahren um das politische Formprinzip der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert - sie wurde auch von der Geschichtswissenschaft stärker rezipiert, da hier die Frage eines etwaigen verfassungshistorischen deutschen Sonderweges mit dem Ergebnis des preußischen Verfassungskonflikts verknüpft ist. Sie setzten damit die Kontroverse zwischen C. Schmitt und Huber aus den 1930er-Jahren fort, wobei Böckenförde stärker die Schmitt'sche Position übernahm (381 ff.). Hier hätte man sich noch eine tiefer gehende Analyse Grothes gewünscht, denn es ließe sich zeigen, dass Huber sich nur zu Teilen von Schmitt zu lösen vermochte - er war zwar bereit, das politische Formprinzip nicht nur einer Verfassungsmacht zuzuordnen, sondern im Zusammenwirken zweier Gewalten zu erkennen, aber gleichzeitig ordnet auch Huber wie Schmitt jeder Verfassungsmacht nur ein Legitimitätsprinzip zu. Warum rezipierte Huber auch in späterer Zeit nicht Max Weber? - denn so wäre für ihn möglicherweise erkennbar gewesen, dass sich zwei der drei Weber'schen Legitimitätsprinzipien - das traditionale und das rationale - in der konstitutionellen Monarchie in Deutschland auch bei einer einzelnen Verfassungsmacht vermischten.[5]
Ewald Grothe hat mit seiner gründlichen und kenntnisreichen Analyse eine wichtige Lücke geschlossen, die zum weiteren Denken anregt. Seinem methodisch und inhaltlich hohen Anspruch einer Rekonstruktion der Geschichte der Verfassungsgeschichtsschreibung als Wissenschaftsgeschichte im disziplingeschichtlichen, politischen und sozialem Zusammenhang wird Grothe voll und ganz gerecht.
Anmerkungen:
[1] Grothe, 77, 144 ff.; Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze und seine Konzeption der "Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten", in: ZHF 20 (1993), 91 ff.; Ernst Schulin: Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewusstsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880-1945, 2. Auflage Frankfurt 2003, 171.
[2] Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13.7.1934, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), H. 15 v. 1.8.1934, 945-950; Ernst Rudolf Huber: Die Einheit der Staatsgewalt, in: ebd., 950-960.
[3] Ewald Grothe: Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: ZfG 53 (2005), 230 f.
[4] Reinhard Mehring: Wandlung und Bewahrung. Ernst Rudolf Hubers bundesrepublikanische Kehre, in: Ästhetik & Kommunikation 36 (2005), H. 129/130, 146 f.
[5] Ausführlicher zu dieser Frage: Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, 57-64.
Martin Kirsch