Katharina Kunter: Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume. Evangelische Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus (1980-1993) (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen; Bd. 46), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 346 S., ISBN 978-3-525-55745-7, EUR 59,90
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Katharina Kunter beginnt ihre ansonsten solide und kenntnisreiche Arbeit bedauerlicherweise mit einer Ungenauigkeit. So lässt sich erst auf den zweiten Blick eine Deckungsgleichheit zwischen dem Titel ihrer Arbeit und dem im Verlagstext ausgewiesenen Anliegen ausmachen. Laut Verlagstext untersucht Katharina Kunter in ihrer Arbeit "das gesellschaftliche Engagement von Christen im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, das sich über den Zeitraum der Jahre 1980-1993 erstreckte." Analysiert wird also konkret eine "von der Ökumene ausgehende kirchenreformerische und gesellschaftliche Initiative [...] insbesondere [von] Protestanten in den beiden deutschen Staaten zu einem verstärkten friedensethischen Einsatz in der Welt und zu bürgerschaftlichen Aktivitäten vor Ort". Der Titel der Veröffentlichung weist die Arbeit hingegen weitgehend unkonkret als Abhandlung zum Thema "Evangelische Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus (1980-1993)" aus und ließe zunächst nicht unbedingt eine Analyse zum konziliaren Prozess erwarten. Katharina Kunter selbst umschreibt ihr erkenntnisleitendes Interesse in der etwas zu lang geratenen Einleitung wie folgt: Die Fragestellung werde "im Hinblick auf die Wertigkeit von Gerechtigkeit und die Gestaltungskraft von Ideen wie Demokratie und Sozialismus vor dem Hintergrund unterschiedlicher Staatssysteme in der Bundesrepublik und in der DDR [...] am Beispiel des sogenannten konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung entfaltet." Konkret gehe es ihr darum, "die innerhalb dieses Prozesses dominierenden Akteure, aber auch ihre gesellschaftspolitischen und theologischen Deutungen und daraus abgeleiteten Handlungen" anhand des Programms "des in den achtziger Jahren entstandenen konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung - ein spezifisches kirchliches Sammelbecken gesellschaftspolitisch engagierter Gruppen und Kreise in der DDR und der Bundesrepublik" zu beschreiben (16).
Der Profession der Autorin entsprechend wird der betreffende Prozess aus historischer Perspektive beleuchtet; zugleich geht Katharina Kunter aber auch gebührend auf jene theologischen Impulse und Überlegungen ein, die in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung sind. Die Arbeit entstand im Rahmen des von der Evangelischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts "Die Rolle der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland" und wurde im Sommersemester 2004 von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe als Habilitationsschrift angenommen.
Kunter gliedert ihre Abhandlung, die vornehmlich als Diskursanalyse angelegt ist, in vier Hauptteile. Im ersten Teil zeichnet die Autorin jene politischen Entwicklungen - angefangen beim Ost-West-Konflikt über die deutsch-deutsche Wiedervereinigung bis hin zu den Neunzigerjahren - nach, die einen entscheidenden Einfluss auf den konziliaren Prozess ausübten. Der zweite Teil widmet sich dezidiert dem innerkirchlichen Diskussions- und Positionsbestimmungs-Prozess und den hierbei rückblickend als Marksteine der Entwicklung erscheinenden Kirchenversammlungen und Konferenzen im Zeitraum von 1975 bis 1990.
Thematisiert werden zudem die besondere Bedeutung der Ökumene für die Kirchen, kirchlichen Gruppen und Netzwerke in der DDR sowie die kirchlichen "Konsultations- und Handlungsebenen". Den dritten Teil ihrer Arbeit stellt Kunter unter die Überschrift "gesellschaftspolitisches Handeln als Ausdruck kirchlichen Unbehagens am politisch-gesellschaftlichen Zustand Deutschlands (1982-1989)". In ihm beschreibt die Autorin vor dem Hintergrund der "religiöse[n] Sozialisation" (139/147) und von "zeitgeschichtliche[n] Einflüsse[n]" (142/149) die "Selbstwahrnehmungen" von "Christen in der DDR" und in der Bundesrepublik. Behandelt werden aber auch das "Leiden an der Risikogesellschaft Bundesrepublik" (154) und - unter nicht unbedingt einleuchtender Verwendung des Komparativs in den adjektivischen Zuschreibungen - das "Engagement für eine offenere und demokratischere DDR" (170). Im vierten und letzten Teil ihres Buches geht die Autorin auf die auch für die meisten Akteure des konziliaren Prozesses kaum vorhersehbare Entwicklung ab 1989 ein. Wie sie herausarbeitet, zog der Prozess der Wiedervereinigung - bedingt durch die sich verändernden Handlungsbedingungen und sich wandelnden Motive für das Engagement - eine nachhaltige "Störung des konziliaren Prozesses" (205) nach sich. Im Ergebnis dieser Entwicklung, die sie bis 1993 nachzeichnet, sahen sich die einen nach der Demokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft - wie es im Titel bereits anklingt - befähigt von "erfüllte[n] Hoffnungen" zu sprechen. Für andere Akteure des konziliaren Prozesses wiederum, die auf einen alternativen Weg Ostdeutschlands zwischen Realsozialismus und Kapitalismus gesetzt hatten, zerbrachen lang gehegte Träume. Die Träume basierten auf Vorstellungen, die sie im Rahmen des konziliaren Prozesses vor 1989 trotz der fehlenden Möglichkeiten zur Realisierung stets mitgedacht hätten und die nun, nachdem sie im Herbst 1989 unerwarteter Weise in greifbare Nähe gerückt schienen, mit der sich anbahnenden deutsch-deutschen Wiedervereinigung ab 1990 dauerhaft zu entschwinden drohten. Zu den langfristigen Veränderungen, die der konziliare Prozess dennoch auszulösen vermochte, zählt auf der individuellen Seite der Perspektivwechsel, der sich bei nicht wenigen Akteuren einstellte. Nicht wenige der damals Beteiligten sahen sich so imstande, von der Basis der am Prozess beteiligten kirchlichen Gruppen auf die kirchliche Leitungsebene oder auch in politische Ämter zu wechseln. Dass sie sich dabei als basiserfahren auszuweisen vermochten, stärkte eindeutig ihre Aufstiegschancen und wurde ihnen als soziales und moralisches Kapital angerechnet. Die auf kirchlichen Versammlungen im Rahmen des konziliaren Prozesses geknüpften informellen und offiziellen Kontakte und hier begründeten Netzwerke unterstützten diese Entwicklung und schufen zudem - auch wenn sich die damals Beteiligten später mitunter in politisch sehr unterschiedliche Richtungen entwickelten - einen verbindenden Erfahrungshorizont.
Christian Halbrock