Andreas Heyer: Die französische Aufklärung um 1750. Band I: Die Diskurse der französischen Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen Tradition und Innovation, Berlin: uni-edition 2005, 292 S., ISBN 978-3-937151-28-1, EUR 27,90
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Andreas Heyer: Die französische Aufklärung um 1750. Band II: Bio-Bibliographisches Handbuch, Berlin: uni-edition 2005, 357 S., ISBN 978-3-937151-29-8, EUR 29,90
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Die Studie - zumindest vom Verlag ausdrücklich als "Lehrbuch" bezeichnet - besteht aus zwei Bänden, einer Darstellung von zentralen Diskursen der französischen Aufklärung um die Mitte des 18. Jahrhunderts und einem bio-bibliographischen Handbuch. Die grundlegende These besteht in einer empirisch verfahrenden Neueinteilung der französischen Aufklärung, die bisherige Darstellungen dieser Epoche ergänzen will. Der Beginn der Aufklärung wird auf die Zeit um 1690 angesetzt, "da sich zu diesem Zeitpunkt das Selbstverständnis der Aufklärung durch die 'Querelle des anciens et des modernes' entscheidend und richtungsweisend" geändert habe (Bd. 2, 9). Nach diesem ersten Schnitt sei dann die Zeit um 1750 als epochaler Wandel der Aufklärung zu interpretieren, da zu dieser Zeit viele jener Theorien, Thesen und Bücher, "die heute zumeist mit dem 'siècle de lumières' verbunden würden", erschienen seien. Motiviert worden zu seiner Arbeit, so Andreas Heyer, sei er durch den festgestellten Bruch zwischen französischer Frühaufklärung und der Aufklärung um 1750.
Zunächst zum ersten Band, der mit einer einleitenden Bestimmung der Epoche und der Darstellung ihres Gehaltes beginnt, die Zeit um 1750 als entscheidend für die Herausbildung der wesentlichen Charakteristika der französischen Aufklärung beschreibt und dies an zehn Diskursen zu belegen versucht, die um die Mitte des Jahrhunderts zu verfolgen sind. Jeden einzelnen dieser Diskurse stellt Heyer in vier Schritten dar: einer einleitenden Darstellung des Ursprungs und der Quellen der entsprechenden Debatte folgen zwei inhaltlich analysierende Unterabschnitte, den Abschluss bildet jeweils eine Zusammenfassung. Der Autor beginnt mit dem "Fortschrittsdiskurs", fährt mit den Debatten um Rousseau und den Kulturpessimismus, über die Erkenntnistheorie, über die Sprache und Sprachentstehung und über den philosophischen Roman fort, kommt sodann zum Streit um die Funktion der Aufklärung, zur Debatte um die politische Staatsbeschreibung, politische Geographie und politische Ökonomie, fährt mit der Auseinandersetzung über den französischen Materialismus mit Diderot, Holbach und Hervétius als dessen Vollender fort, um sodann abschließend zunächst die politischen Utopien und die um sie geführten Debatten und die Diskussion über die Vertragstheorie darzustellen.
Es erscheint als eigentlich nahe liegende Idee, eine Geistes- und Reformbewegung durch die großen Debatten zu beschreiben, die in ihr und von ihren Teilnehmern geführt wurden. 2004 hat Ursula Goldenbaum mit den beiden von ihr herausgegebenen Sammelbänden "Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796" sehr erfolgreich und mit erheblichem Erkenntnisgewinn ähnliches für Deutschland versucht. [1] Unbestreitbar hat sich Heyer für sein Projekt Debatten ausgesucht, die zentral und prägend für die französische Aufklärung waren und anhand derer sich wesentliche Charakteristika aufzeigen lassen, auch wenn sich bei einzelnen dieser öffentlichen Diskussionen darüber streiten läßt, ob ihr Beginn oder Schwerpunkt tatsächlich um 1750 zu bestimmen ist. Gerade bei der Diskussion über Epochengrenzen oder Paradigmenwechsel ist stets die Gefahr vorhanden, um der pointierten These willen die Realität in das Korsett der eigenen Argumentation zu zwingen, doch immerhin erschienen 1751 die beiden ersten Bände der "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers", fürwahr ein Epochendatum für die europäische Aufklärung.
Da es hier nicht möglich ist, Debatte für Debatte im Detail zu diskutieren, sei etwas genauer auf den Streit über die Funktion der Aufklärung geschaut, der ja auch in Deutschland seit der Jahrhundertmitte immer wieder (und nicht erst 1784 mit den Diskussionsbeiträgen von Kant und Mendelssohn in der "Berlinischen Monatsschrift") geführt wurde. Die französische Frühaufklärung, so die These Heyers, sei mit ihrem Versuch gescheitert, auf die Fürsten bzw. den König beratend Einfluß zu nehmen. Spätestens mit der Rückkehr Diderots aus Rußland sei die Idee des Fürstenberaters 1774 endgültig obsolet gewesen, zur selben Zeit hätten auch die "aufgeklärten Minister" der 70er Jahre in Frankreich die Schranken ihrer Wirksamkeit erkannt. Wenn die Vertreter der Aufklärung wirken wollten, so habe Diderot festgestellt, so sei dies nur über die Mobilisierung der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung als Fürsprecher des "dritten Standes" und damit verbunden durch die Aufklärung des Volkes möglich. Genau dies sei auch der Anspruch der "Encyclopédie" gewesen. (Bd. 1, 178) Diderot, so heißt es weiter, habe stellvertretend für die Aufklärung in Frankreich um 1750 den "Anspruch der Anleitung und Aufklärung des 'dritten Standes' als wichtigstem Teil der Nation" formuliert und damit auf den "hohen Selbstanspruch der Aufklärergeneration von 1750" verwiesen: "Ein neues und innovatives Selbstverständnis, das gerade durch den Antagonismus zur Frühaufklärung um 1700 deutlich wird." (Bd. 1, 190)
Heyer analysiert als wesentliches Merkmal des Wandels der Aufklärung in Frankreich also deren Öffnung vom elitär-intellektuellen Zirkel zur öffentlich auftretenden, Ansprüche als staatstragende Gewalt anmeldenden Gruppe von sich als Repräsentanten des "dritten Standes" verstehenden Intellektuellen. Gleichzeitig habe man "im Rahmen der so genannten Volksaufklärung" einen Bildungsauftrag für den "dritten Stand" übernommen und Konzeptionen entwickelt, wie dieser ohne religiös vermittelte Werte und Normen im Rahmen eines säkularen Staates leben und sich entwickeln könne. (Bd. 1, 191)
Seltsam mutet hier die Verwendung des in Deutschland in den 1780er Jahren entstandenen Begriffes der Volksaufklärung an, ist doch hier nichts anderes gemeint als die genuine Aufgabe der Aufklärungsbewegung, nämlich den so genannten dritten Stand aufzuklären. Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff dann im Sachregister des zweiten Bandes, mit dem die ausgewerteten Quellen erschlossen werden, völlig fehlt. Es scheint gerade ein wesentlicher Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Aufklärung zu sein, dass in ersterer eine intensivere Diskussion über die Adressaten der Aufklärung (über die ganz selbstverständlich angesprochenen Gelehrten und Gebildeten des Bürgertums hinaus) fehlt, somit auch die Thematisierung dessen, was aus dem Universalismus der Aufklärung, der auch die breiten Schichten der Landbevölkerung einzuschließen hätte, zu folgen habe. Die "Encyclopédie" jedenfalls war ganz sicher kein Medium einer Volksaufklärung, die irgend etwas mit der deutschen Bürgerinitiative zu tun gehabt hätte, die sich seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts in tausenden von Büchern, Zeitschriften, Kalendern, Zeitungen und Intelligenzblättern an alle Stände der Bevölkerung zu wenden begann.
Solche Einwände ändern nichts an einem insgesamt positiven Urteil zum ersten Band: Es liegt ein aus der Sicht des deutschen Aufklärungsforschers respektabler Versuch vor, das Wesen der französischen Aufklärung aus ihren besonders auch in der periodischen Literatur geführten Hauptdebatten zu bestimmen und in ihrer Entwicklung zu beschreiben, dabei auch Autoren und an den Diskussionen Beteiligte zu berücksichtigen, die nicht zum üblicherweise untersuchten Kanon gehören. Fraglos bietet eine solche Ausweitung der Quellen neue Einsichten, methodisch erscheint das Vorgehen sehr sinnvoll. Dies gilt eigentlich auch für den zweiten, bio-bibliographischen Band, in dem neben der "Encyclopédie" vier Zeitschriften für den Zeitraum von 1740 bis 1759 in einer Querschnittsanalyse ausgewertet werden. Berücksichtigt wurden neben Periodika der Aufklärung und der radikalisierten Aufklärung auch eine Zeitschrift aus klerikalen Kreisen und eine mit dezidiert antiaufklärerischem Programm. Erfasst wurden alle Autoren der "Encyclopédie" sowie alle, die mit einem selbständigen Werk in einer der ausgewerteten Zeitschriften rezipiert wurden. Neben Philosophen oder Literaten können auf diese Weise auch Naturwissenschaftler, Entdeckungsreisende oder Mediziner berücksichtigt werden, wodurch es möglich werden soll, die Bedeutung bestimmter Themen für die Aufklärung zu bestimmen. Dies allerdings ist in dem Wust von Daten, die hier übermittelt werden, nicht gerade leicht. Daran ändert auch ein Sachregister wenig, das, um nur ein Beispiel zu nennen, von Aberglaube auf Atheismus verweist, wo man dann neun Personen findet, bei denen dieses Thema offenbar eine Rolle gespielt hat. An erster Stelle steht der Name Diderot, unter dem dann neben einer eineinhalb Druckseiten umfassenden Biographie nicht mehr als eine kommentarlose Liste von Buchtiteln erscheint, die offenbar in den ausgewerteten Zeitschriften Erwähnung gefunden haben. Bei aller Würdigung der mit einem solchen Verzeichnis verbundenen Mühe und der grundsätzlich richtigen Idee, die Wirklichkeit der Aufklärung aus der Zeitschriftenliteratur extrahieren zu wollen, muss doch am Nutzen des hier mitgeteilten Datenberges gezweifelt werden. Mit einem Lehrbuch hat allenfalls der erste Band etwas zu tun, in dem der Leser übersichtlich und nützlich wesentliche Debatten der französischen Aufklärung aufbereitet findet.
Anmerkung:
[1] Ursula Goldenbaum: Der Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796, 2 Bde., Berlin Verlag 2004.
Holger Böning