Rezension über:

Frank Lestringant: Le Huguenot et le sauvage. L'Amérique et la controverse coloniale, en France, au temps des guerres de religion (1555-1589), Troisième édition revue et augmentée, Genève: Droz 2004, 628 S., ISBN 978-2-600-00527-2, EUR 22,00
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Frank Lestringant: Le Huguenot et le sauvage. L'Amérique et la controverse coloniale, en France, au temps des guerres de religion (1555-1589), Troisième édition revue et augmentée, Genève: Droz 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/5852.html


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Frank Lestringant: Le Huguenot et le sauvage

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Dass hier die dritte Auflage des erstmals 1990 erschienenen Buches von Frank Lestringant zu besprechen ist, deutet schon an, dass es sich um einen Klassiker im Bereich der Forschungen zur frankophonen Renaissance handelt. Lestringant hat mit diesem Werk, das aus etlichen miteinander verwobenen Einzelstudien besteht, die seither durch eine Vielzahl weiterer Aufsätze flankiert wurden [1], das Thema der frühen 'gescheiterten' Kolonialgeschichte Frankreichs des 16. Jahrhunderts ins Zentrum des Interesses der französischen und internationalen Renaissanceforschung gerückt. Der zentrale Gegenstand der (der Disziplin nach literaturwissenschaftlichen) Arbeit ist das so genannte "hugenottische Quellencorpus über Amerika", wie es Marcel Bataillon 1972 benannt hat. Alle drei französischen Versuche im 16. Jahrhundert, bevölkerte Kolonien in Amerika zu gründen, wurden von Protestanten geführt: Jean-François de Roberval, der 1542/43 nach Jacques Cartiers Erkundungen die dritte und vorerst letzte Expedition nach Kanada unternahm, Nicolas Durand de Villagnon, der 1555-1560 in der Nähe des heutigen Rio de Janeiro eine Kolonie gründete, sowie René de Laudonnière, der 1562-65 das Gleiche in Florida unternahm - letztere Kolonie wurde dann von den Spaniern blutig aufgerieben.

An Berichten über diese Unternehmungen und an Beschreibungen der neuen Welt zirkulierten im französischsprachigen Raum aber zunächst nur einige Briefe und eher ephemere Drucke in Flugschriftenformat. Dann erschien 1575 die Cosmographie universelle des königlichen katholischen Kosmographen André Thevet, der 1557 als Chronist bei der Brasilien-Unternehmung 10 Wochen dabei gewesen war und seit dieser Zeit eine Fülle an Material gesammelt und verarbeitet hatte. Im Modell der Renaissance-Kosmographie, die die zeitgenössische Autopsie neben überliefertes antikes Wissen über die Welt stellt und eine philologisch-mythologisch-kartographische Gesamtschau erarbeitet, widmet Thevet etwa ein Viertel seiner Cosmographie der Neuen Welt, oft ohne seine Quellen genau zu spezifizieren. [2] Er flocht dabei einige Invektiven gegen die Protestanten, insbesondere gegen die aus Genf nach Brasilien entsandten Pastoren ein. Dies führte dazu, dass nun protestantischerseits eine Serie von Werken über die Neue Welt publiziert wurden, die sich inhaltlich wie methodisch gegenüber Thevet zu profilieren suchten: zuerst 1578 L'Histoire d'un voyage faict en la terre du Bresil von Jean de Léry, einem der nach Brasilien mitgereisten Calvinisten, 1579 die istoire nouvelle du Nouveau Monde nach Girolamo Benzoni, herausgegeben von Urbain Chauveton, 1586 die Histoire notable de la Floride von René de Laudonnière, dem Führer dieser Expedition selbst, sowie weitere Sammelpublikationen, die insbesondere in die Grands Voyages des nach Frankfurt exilierten Drucker-Verlegers Théodore de Bry mündeten. Eine Fülle anderer Autoren, nicht zuletzt etwa Montaigne mit dem berühmten Kannibalen-Kapitel in den Essais, schöpfte selektierend und umdeutend aus diesem Korpus.

Lestringant rekonstruiert in detailgenauer Analyse die Bezüge zwischen den Texten, ihre Quellen, ihre Einbindung in den Kontext der innen- und außenpolitischen Situation Frankreichs und insbesondere die interpretativen Rahmen der Darstellungen sowie die historiografiegeschichtliche Einordnung der von den Autoren bemühten Methoden.

So zeigt sich, dass Léry sich methodisch von Thevets kosmographisch-proto-ethnologischer Erfassung durch eine Subjektivierung des Erzählens absetzt: seine Histoire wird fast zu einem "Bildungsroman" (96). Mit Ausnahme des Horrendums des Kannibalismus, der immer wieder umkreist und mit europäischen Beispielen verglichen wird, werden die Wilden als dem schöpfungsgeschichtlichen Naturzustand nahe beschrieben. Der "Komparatismus" des Vergleichens zwischen einer depravierten europäischen Welt und einem Naturzustand entspringt einer negativ-eschatologischen calvinistischen Weltsicht und begründet so den Mythos vom "Guten Wilden", wie ihn der antikolonialistische Diskurs der Aufklärung dann wieder aufnimmt (197-204). Die protestantischen Autoren funktionalisieren ihre Darstellung der Neuen Welt in der konfessionellen Propaganda: sie befördern die antispanische leyenda negra, indem sie etwa die Erinnerung an die 1565 von Pero Menéndez de Avilés verübte Massenexekution an den französischen Kolonisten Florida neu beleben, indem sie aber auch den Umgang der Spanier mit der indigenen Bevölkerung selbst anprangern. Dies, indem etwa die Kritik von Las Casas übersetzt wird, aber auch indem kolportiert wird, der spanische Kolonialismus sei auf die Lehren Machiavellis zurückzuführen (so bei Urbain Chauveton 1578, 178-181). Aus der defensiven Situation der Ohnmacht eines innerlich im Religionskrieg zerrissenen und daher im kolonialen Wettstreit im 16. Jahrhundert kaum präsenten Frankreich ergibt sich eine von katholischer Seite aus geringe Profilierung der Erfassung der Neuen Welt, wobei die Protestanten die starke Tendenz zur allegorischen Identifikation der Hugenotten mit den "Wilden" vertraten: So wie der Spanier die Wilden in Amerika verfolgt, so werden die Hugenotten von der katholisch-spanischen Fraktion in Frankreich und in ganz Europa heimgesucht. Dem korrespondiert auch die relative Zurückhaltung der protestantischen Autoren gegenüber der Vorstellung einer Zwangsmissionierung der indigenen Bevölkerung: Sie speist sich allerdings nicht aus einer programmatischen Toleranz, sondern aus einer Indifferenz oder aus einem prädestinativen Pessimismus, da etwa Léry davon ausgeht, dass die Abkommen Chams, denen er die Indianer zurechnet, verdammt seien (360). Der protestantische Diskurs sieht sich allerdings dem Problem gegenüber, einerseits die spanische Expansion kritisieren, andererseits selbst durchaus Legitimationen für eine potenzielle eigene Expansion oder zumindest für die Bemühungen des protestantischen Partners England finden zu wollen. Diese Zweistimmigkeit wird etwa in der geopolitischen Vision Philippe Duplessis-Mornays deutlich, der ein theologisch-universalhistorisches Konzept entwickelt, wonach von den Söhnen Noahs und von einem im Mittleren Orient angesiedelten Zentrum aus in Migrationsschüben die Welt der Providenz Gottes folgend bevölkert wird, so dass auch eine zukünftige protestantische Kolonisierung der Neuen Welt dieser noch nicht abgeschlossenen Bestimmung folgen würde (183-193). Diese Vision führte aber zu keinem französischen kolonialen Neuversuch vor Champlains Kanada-Expeditionen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die Indienstnahme der Geschichte für solche theologico-politischen Modelle scheint im skeptisch-pyrrhonistischen Ansatz Montaignes gebrochen, bei dem die Indianer nicht mehr allegorisch für anderes stehen, sondern in einer eigenen Gegenwart ihre Ausrottung erleiden (387f.).

Lestringants Analysen münden in die These, dass im Hinblick auf den kolonialen Diskurs in Frankreich "das Imaginäre" vom Misserfolg des Kolonisierens in "der Realität" profitiert hat: die Idealisierung der Neuen Welt und der indigenen Bevölkerung habe im französischsprachigen Bereich, wo bis 1625 kein Jesuit jemals französischen Kolonialboden betreten hat, Raum greifen können. Der Protestantismus, der bei den frühen Versuchen des 16. Jahrhunderts federführend war, habe kaum missionarische Energie gegenüber den Eingeborenen entfaltet. Die in der protestantischen Anthropologie begründete Geschichtssicht mache aus Lérys Histoire eine Art frühes, freilich widersprüchliches antikolonialistisches Manifest. Lestringant meint daher formulieren zu können: "Nicht auf Grund eines spezifischen Verdienstes, sondern auf Grund des [sc. kolonialen] Scheiterns konnte Frankreich am besten die physische und kulturelle Integrität des Anderen bewahren, gleichsam dank der Serie von militärischen Misserfolgen [...]" (409).

Ob man nun der These in dieser Zuspitzung folgt, die implizit für das "unschuldige Frankreich" eine Art Vorreiterrolle im antikolonialistischen Diskurs von den Hugenotten bis zur Aufklärung zu reklamieren scheint: Lestringants Analysen der Geschichtskonzeptionen und die Rekonstruktion der Konflikte und Spannungen zwischen den Autoren und zwischen ihren Texten im Kontext des Frankreichs der Religionskriege sind quellenkritische und interpretative Grundlagenarbeit, die zudem noch brillant dargestellt ist. Die dritte Auflage des Buches ist im Fußnotenapparat durchgängig aktualisiert, um weitere vier Artikel zum Thema in der "Postface" erweitert (419-493), enthält eine hilfreiche detaillierte Chronologie der französisch-atlantischen Ereignisgeschichte 1492-1615 (495-528) sowie eine räsonierte Bibliografie und ein genaues Namensverzeichnis.

Auf der einen Seite ist der durchaus beeindruckende und stimulierende Arbeitsstil der Studie, stets am Thema weiterzuarbeiten, Fragen zu vertiefen und durch weitere Artikel zu untermauern, hervorzuheben. Auf der anderen Seite ist es ein Problem, dass manche Schlagwörter und Zitate (etwa der Verweis auf Bataillons Begriffsprägung "corpus huguenot") immer wieder kapitelweise von Neuem auftauchen und dass manchmal auch die eigentlich großen Linien der Interpretation zu einem Autor erst später nebenbei deutlich werden und nicht im ersten einschlägigen Kapitel (etwa die Thesen zu Léry, die auf den Seiten 195-204 und 387f. betont werden, im Eingangskapitel zu seinem Werk auf den Seiten 77-128 aber noch kaum angedeutet sind).

Diese Kritik soll die eigentliche Leistung des Buches jedoch nicht mindern, das als ein Standardwerk zum frühen französischen Kolonialdiskurs betrachtet werden sollte.


Anmerkungen:

[1] Frank Lestringant: L'expérience huguenote au Nouveau Monde (XVIe siècle), Genève 1996.

[2] Lestringant hat den epistemologischen Rahmen von Thevets Arbeit in einer Separatpublikation untersucht: Frank Lestringant: L'atélier du cosmographe ou l'image du monde à la Renaissance, Paris 1991. Thevets handschriftlich verbliebenes, die Cosmographie ergänzendes Werk ist inzwischen ebenfalls ediert: André Thevet: Histoire d'André Thevet Angoumoisin, Cosmographe du Roy, de deux voyages par luy faits aux Indes Australes, et Occidentales, hg. v. Jean-Claude Laborie et Frank Lestringant, Genf 2006.

Cornel Zwierlein