Jürgen Zarusky (Hg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2006, 276 S., ISBN 978-3-486-57893-5, EUR 44,80
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"Stalin ist in", schreibt der Herausgeber zu Beginn locker-lakonisch. Die in dem lesenswerten Buch präsentierten Fakten und Überlegungen aber sollten alle an der Zeitgeschichte Interessierten aus der Ruhe bringen, denn dieses Thema "qualmt" nach wie vor. Stalins Schatten liegt über den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem über Russland, und sein Bild schwankt in der Geschichte. Vom Führer der Völker bis zum größten Verbrecher des Jahrhunderts, dem Hitler mit einem Befreiungsschlag zuvorkommen wollte - all dies lässt sich in jüngeren Publikationen angeblich seriöser Historiker nachlesen. "Mit dem stets gehassten und gefürchteten Stalin" werde er auch "heute noch nicht fertig", bekannte 1996 der Literaturhistoriker Hans Mayer. "Er hat schließlich, fast wider Willen, die Faschisten besiegt und die rote Fahne gehisst auf dem Brandenburger Tor. Er war ein Verbrecher, ein Paranoiker und ein Sieger."
Zumal in Deutschland ist Stalin somit ohne seinen Gegenspieler Hitler nicht zu denken. Aber die Beziehungen Stalins zu deutschen Politikern und Militärs umfassen mehr: In der Weimarer Republik war die KPD, deren Wege und Irrwege Stalin entscheidend mitprägte, ein wichtiges Instrument, das die Sowjetunion indirekt in ihrem außenpolitischen Kalkül einzusetzen wusste. Unter Hitler wurde Stalins Sowjetunion zum Rettungshafen für verfolgte deutsche Kommunisten - und nur für sie. Doch eine bedrückend große Zahl von ihnen, mindestens 1.100, wurde dort auch Opfer der mit Stalins Namen verbundenen Terrorwelle. Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands bzw. die frühe DDR wurde zum Experimentierfeld der Übertragung des Stalinschen Modells auf ein hochindustrialisiertes, wenngleich zerstörtes Land.
Viele dieser Aspekte werden in dem vorliegenden Sammelband erörtert, der aus einer Tagung hervorging, die im März 2003 am Münchner Institut für Zeitgeschichte stattfand. Äußerer Anlass war der 50. Todestag Stalins, der im postsowjetischen Diskurs (besonders in der Russischen Föderation) eine allmähliche, wenn auch schleichende, jedenfalls beunruhigende Aufwertung erfährt.
Das Buch ist in zwei Themenkomplexe gegliedert. Der erste Teil ist mit dem Titel "Stalin und die Deutschen. Aspekte der Beziehungsgeschichte" überschrieben. Bert Hoppe behandelt darin Stalins Verhältnis zur KPD der Weimarer Republik, Reinhard Müller äußert sich zu Herbert Wehner im sowjetischen Exil, Sergej Slutsch untersucht die Beziehungen zwischen Kreml und Reichskanzlei zwischen 1933 und 1941, Pavel Poljan wendet sich den Opfern des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion zu, und Andreas Hilgers Beitrag über deutsche Kriegsgefangene in Stalins Russland kann als willkommene Ergänzung dazu gelesen werden.
Jochen Laufer und Alexej Filitow behandeln verschiedene Aspekte der sowjetischen Deutschlandpolitik zwischen 1941 und 1953, und Bernd Bonwetsch sowie Sergej Kudrjašov analysieren in einem gemeinsamen Beitrag das Protokoll des Besuchs der SED-Führung im Frühjahr 1952 in Moskau. Diese Aufsätze behandeln Fragen, die in der Forschung seit langer Zeit debattiert werden, und sie weisen auf einen allmählichen Konsens unter der Mehrzahl der Forscher hin: Die vieldiskutierte Offerte Stalins an die Westmächte scheint, so Filitov, zwar ein gut kalkulierter Bluff gewesen zu sein; ungeachtet dessen vergab der Westen, indem er das Angebot nicht testete, die Chance auf eigene politische Initiativen. Die Entscheidung der DDR-Führung auf "Errichtung der Grundlagen des Sozialismus" war mit den sowjetischen Spitzen, die sich jede Entscheidung vorbehielten, abgestimmt und kein Vorpreschen Ulbrichts, obgleich dieser eigene Akzente in der Innenpolitik zu setzen suchte.
Elke Scherstjanoi weist nach, dass in der DDR, anders als in der Sowjetunion, nur eine Minderheit der Menschen vom Tode Stalins berührt war, und Nikita Petrow skizziert die inzwischen ein halbes Jahrhundert lang andauernden Debatten über den Umgang mit den Opfern der Stalinschen Repressionen.
Natürlich bringt nicht jeder Beitrag aufregend Neues; dies zu erwarten, wäre vermessen. Vieles ist eine nüchterne, angesichts des beklemmenden Themas bemerkenswert unaufgeregte Zwischenbilanz bisheriger Forschung. Doch besonders die Aufsätze von Poljan und Hilger, liest man sie im Vergleich, machen klar, dass deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR allgemein ein weniger schlimmes Los erwartete als sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland, die in die Heimat repatriiert und dort oft wieder interniert wurden. Poljans Feststellung, wonach unter Stalin "auch das Gedenken und Erinnern an den Holocaust einem Verbot" unterlag, verdient ein Nachdenken (91). Zweifellos hat Poljan Recht: Eine Erinnerungskultur, die den Opfern des Holocaust ihren spezifischen Platz zumaß, existierte nicht oder wurde unterdrückt. Es war aber doch komplizierter: Im Mai und November 1947 konnten die Sowjetbürger Andrej Gromykos Worte nachlesen, als er vor den Vereinten Nationen die Notwendigkeit der Staatsgründung Israels ausdrücklich mit dem Massenmord begründete - zur gleichen Zeit unterbanden die Behörden Bemühungen von Juden, die ihrer Toten gedachten. Die Vernichtung habe zuerst den Kommunisten gegolten, hieß es offiziell, dann den Juden, wofür der berüchtigte Kommissarbefehl herangezogen wurde. Wer die Reihenfolge der Opfer umkehre, handle "objektiv" als Parteifeind.
Der zweite Teil des Buches erörtert anhand der Personen Stalin und Hitler Probleme des Diktaturvergleichs. Leonid Luks sucht nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der "Herrschaftslogik" beider Diktaturen und kommt zu dem - doch recht mageren - Ergebnis, dass "Ambivalenz und Janusköpfigkeit" ihnen beiden gemeinsam gewesen seien (230). Luks, der sonst so empirisch fundiert argumentiert, muss aber auf nur viereinhalb Seiten die Antwort schuldig bleiben, worin genau das Gemeinsame der Herrschaftslogik Hitlers und Stalins bestand. Der Herausgeber Zarusky plädiert für eine wissenschaftliche, nicht aber propagandistische Anwendung der Totalitarismus-Theorie und meint, diese "erfasst wie kein anderer theoretischer Ansatz den inneren Zusammenhang von Ideologie, Terror und Führerkult." (250) Taugt der Ansatz aber besser als andere zur Interpretation der sozialen Natur von deutschem bzw. europäischem Faschismus oder des Stalinschen (gar des nach-Stalinschen) Sowjetkommunismus? Hier dürfte eine bejahende Antwort weit schwieriger sein. Zurückhaltender geht Dieter Pohl in der Untersuchung der Massenverbrechen mit dem Totalitarismus-Begriff um. Er fordert die Erarbeitung von "Mikrostudien", die nachweisen könnten, inwieweit sich der Typ des "Weltanschauungstäters" etwa in der SS und im NKWD voneinander unterschied oder Gemeinsamkeiten aufwies (260).
Gerd Koenen fragt nach dem utopischen Gehalt im Stalinismus und folgert, nicht der Utopismus (etwa Marx' und Lenins) erzeugte das Phänomen totaler Macht, sondern "die sich totalisierende Macht der Partei" produzierte ihre eigenen Utopien, wenngleich diese sich noch in marxistische Rhetorik kleideten und am Gleichheitsanspruch des Kommunismus formal festhielten. Gerade deshalb blieben, so Koenen, auch kritische Kommunisten, er nennt das Beispiel Ossip Mandelstams, im Denkgefüge der herrschenden Partei gefangen. Ein solcher Ansatz ist bedenkenswert, auch mit Blick auf die so tragischen letzten Äußerungen Bucharins im Angesicht seiner Ermordung, in denen er die Partei und Stalin beschwor, ihm sein kommunistisches Credo zu glauben, mit dem er ins Grab gehe. Was keine Variante der Totalitarismus-Theorie bisher befriedigend erklären konnte, ist die Begründung für die Tatsache, dass ein totalitäres Regime das andere im größten Vernichtungskrieg der Weltgeschichte auszulöschen suchte und das andere, trotz aller Brutalität, nicht Gleiches mit Gleichem vergalt. Auch das vorliegende Buch liefert hier keine gültige Antwort. Dennoch ist der vorliegende Sammelband ein anregender, wissenschaftlich solider und sachlicher Beitrag zur Diskussion eines Jahrhundert-Problems, zu dem ein "letztes Wort" wohl nicht gesprochen werden kann, das aber auch künftige Generationen in Ost und West hoffentlich weiter beschäftigen wird.
Mario Keßler