Werner Frese (Red.): Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800 (= Westfälische Quellen und Archivpublikationen; Bd. 24), Münster: Vereinigte Westfälische Adelsarchive 2005, 264 S., ISBN 978-3-936258-05-9, EUR 24,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Der Band umfasst die Vorträge eines wissenschaftlichen Kolloquiums, das der Verein der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V. im Rahmen des Gedenkjahrs zum Reichsdeputationshauptschluss des Jahres 1803 und der damit im Zusammenhang stehenden Säkularisation durchführte. Unter den zahlreichen aus diesem Anlass entstandenen Publikationen und Veranstaltungen hatte sich dieses Kolloquium zum Ziel gesetzt, die besonderen Auswirkungen jener Ereignisse auf den westfälischen Adel in den Blick zu nehmen. Insgesamt sechs Beiträge, ergänzt durch eine Tagebuchedition, beleuchten Aspekte des westfälischen Adels um 1800 aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dass die meisten Beiträge dabei im hohen Maß aus den Beständen der westfälischen Adelsarchive schöpfen und damit dem erklärten Ziel des Vereins entsprechen, die in den angeschlossenen privaten Archiven verwahrten Quellen der historischen Forschung zu öffnen, macht den besonderen Wert des Bandes aus.
Das übergreifende Eingangsreferat Barbara Stollberg-Rilingers thematisiert - ohne direkten westfälischen Bezug - den deutschen Adel in der Anpassungskrise um 1800. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Säulen der adligen Exklusivität, nämlich die Verfügung über Grund und Boden, die Partizipation an der zentralen Herrschaft des Monarchen bzw. des Landesherrn, der privilegierte Zugang zu weltlichen und geistlichen Ämtern und vor allem ein weites Verwandtschaftsnetz sowie ein ausgeprägtes Standesbewusstsein, zunehmend Kritik erfuhren. Diese äußerte sich in ökonomischer, aber auch in juristischer Hinsicht: Die Erkenntnis, dass Standesschranken eine sich entwickelnde marktwirtschaftliche Dynamik behindern, hatte sich ebenso verbreitet wie die im Naturrecht wurzelnde Vorstellung der Abhängigkeit der Existenz des Adels vom Staat, was die Verleihung, aber auch den Entzug seiner Privilegien angeht. Die Krise um 1800 überstand der Adel dennoch als geschlossene soziale Gruppe, die zwar in wirtschaftlicher Hinsicht heterogen geworden war, aber umso einheitlicher im Hinblick auf das Standesbewusstsein. Indem eine neue, historische Perspektive entdeckt und der Begriff des Uradels entwickelt wurde, konnte eine Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum wenn schon nicht durch Privilegien oder Reichtum, so doch aus dem Standesbewusstsein betont werden.
Die von Stollberg-Rilinger genannten Grundelemente adliger Existenz werden in den nachfolgenden Beiträgen unterschiedlich stark aufgegriffen und auf die Verhältnisse in Westfalen um 1800 bezogen.
Einen der tiefsten Einschnitte, der Verlust des adligen Einflusses auf kirchliche Ämter, thematisiert Reimund Haas. Am Beispiel der drei westfälischen Domkapitel von Münster, Paderborn und Corvey beschreibt er den Verlust der Adelsdominanz im Zeitraum zwischen 1803 und 1823, wobei sein Schwerpunkt nicht zuletzt wegen des besseren Forschungsstandes eindeutig auf dem Münsteraner Domkapitel liegt.
Mit der neuen Rolle der Standesherren als Untertanen beschäftigt sich Hans-Joachim Behr. Er fragt nach der Haltung, die die Mediatisierten in Westfalen den Staaten, in denen sie aufgingen, Preußen und Hannover, entgegen brachten. Den größeren Raum nehmen dabei die Auseinandersetzungen der Standesherren mit Preußen ein, die aus der Sicht der preußisch-westfälischen Beamten dargestellt werden. Für diese mussten sich die Bemühungen der Mediatisierten um Restitution und Wiederherstellung standesherrlicher Rechte, insbesondere Steuerfreiheit und standesherrliche Gerechtsame, aber auch das Erbrecht, als "mediatisiertes Unwesen" darstellen.
Konflikte des Adels mit der neuen staatlichen Macht ergaben sich auch in der benachbarten Rheinprovinz. Carl Heiner Beusch beleuchtet sie aus der Sicht eines der markantesten Vertreter des rheinischen Adels, Johann Wilhelm Graf von Mirbach-Harff. Überaus detailliert beschreibt Beusch dessen Mitwirkung bei den standespolitischen Bestrebungen des rheinischen ritterbürtigen Adels im Vormärz. Seine Bemühungen um eine Adelsvereinigung, um dem rheinischen Adel eine Organisation zu geben und damit auch der bestehenden Uneinigkeit über seine politischen Zielsetzungen entgegen zu wirken, waren 1837 mit der Gründung der Genossenschaft des Rheinischen Ritterbürtigen Adels von Erfolg gekrönt. Kernstück seiner Bemühungen war die Wiederherstellung zivilrechtlicher Vorrechte in Erb- und Familienangelegenheiten, die trotz der großen Kritik des rheinischen Provinziallandtags von Friedrich Wilhelm III. akzeptiert wurden. Auch das zweite wichtige Projekt, das Mirbach-Harff in Angriff nahm, die Einrichtung adliger Erziehungsanstalten, konnte 1841 mit der Ritterakademie Bedburg und 1842 mit der Stiftung von Präbenden für unverheiratete Töchter bei Friedrich Wilhelm IV. durchgesetzt werden.
Einem ganz anderen Aspekt der Familienpolitik, der Bewältigung von Familienkonflikten, widmet sich Horst Conrad. Er untersucht die Frage, inwieweit die unter dem Einfluss der Aufklärung geänderten Familienbeziehungen auch in adligen Familien sichtbar werden, sowohl im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern als auch der Eheleute untereinander. Anhand der von ihm herangezogenen Beispiele kommt er zu dem Ergebnis, dass in den Familien des westfälischen Adels die überkommenen Familienstrukturen (nahezu absolute hausväterliche Gewalt, untergeordnete Rolle der Mutter) ungebrochen schienen.
Wolfgang Bockhorst zieht eine besondere Quellengattung für seine Ausführungen heran, die Reisetagebücher. Seine Beispiele zeigen, dass die Anlässe für Frankreich- und insbesondere Paris-Reisen im angesprochenen Zeitraum wechselten: Stand in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts noch das Moment der Bildungsreise im Vordergrund, reisten dann wenig später deutsche Adlige mit liberalem politischem Verständnis in erster Linie aus Neugierde, aber auch aus geschäftlichen Interessen in die französische Hauptstadt; ein weiteres Motiv waren auch die in Paris zentralisierten Kunstschätze aus den der französischen Herrschaft unterworfenen Ländern. Politische Gründe, etwa die Teilnahme an verschiedenen Deputationen traten zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinzu. Gemengelagen unter den Interessen waren aber nicht auszuschließen.
Zusätzlich zu den Referaten des Kolloquiums enthält der Band die (Teil-) Edition des in französischer Sprache geführten Reisetagebuchs der jungen Ferdinandine Antoinette von Mengersen, die gemeinsam mit ihren Eltern in den Jahren 1788/89 eine klassische Bildungsreise unternahm, die sie im Juni 1789 nach Paris führte. Dieser schon von Bockhorst mehrfach zitierte Teil des Tagebuchs, der die politischen Ereignisse unmittelbar vor dem Sturm auf die Bastille aus dem Blickwinkel einer Augenzeugin beschreibt, allerdings mit einer recht großen, dem jugendlichen Alter der Autorin zuzuschreibenden Naivität, wurde von Gunnar Teske beispielhaft ediert und mit einer ausführlichen deutschen Zusammenfassung versehen.
Der Band enthält 35 Schwarz-Weiß-Abbildungen, meist Portraits der angesprochenen Personen. Ein Register, das sich bei der Fülle der in manchen Beiträgen genannten Personen angeboten hätte, fehlt dagegen leider. Hilfreich ist der sehr ausführliche Anmerkungsapparat, der immer wieder den Reichtum der einzelnen Adelsarchive zeigt. Insofern erreicht der vorliegende Band leicht das Ziel, die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf diese Privatarchive zu lenken. In diesem Sinne haben die Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V. in Zusammenarbeit mit dem Westfälischen Archivamt schon 2004 eine Beständeübersicht vorgelegt. Ein rheinisches Äquivalent wird derzeit erarbeitet.
Ingeborg Schnelling-Reinicke